Musik erleben
Es geht nicht um »neue Formen« versus »traditionelle Konzerte«, sondern um möglichst vielfältige Angebote für ein vielfältiger werdendes Publikum mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Wir müssen davon ausgehen, dass wir nach unterschiedlichen Formen und Funktionen des Konzertes suchen.
Mich selbst interessiert vor allem die Frage, wie ein Konzert zu einem starken persönlichen Erlebnis werden kann, zu einem Ort jenseits von gelerntem Ritual, Gleichzeitig geht es darum, vermeintlich bekanntes Repertoire auf eine neue Art erlebbar zu machen und vermeintlich Sperriges (zu alt, zu neu, zu unbekannt) jenseits von pädagogischem Impetus in möglichst großer Intensität zu präsentieren.
Deshalb versuche ich seit Jahren, den Zusammenhang zwischen Musik. und Musikerleben im Zusammenspiel mit Parametern wie Raum, Architektur, Publikumsanordnung (Setting), Dramaturgie, Licht und unterschiedlichen Kontexten experimentell zu ergründen. So ist ein beständiger Zyklus ‚von Kreation, Umsetzung, Beobachtung und Auswertung entstanden. Kern dieser Experimente war und ist immer die Suche nach dem »optimalen« Wirkungs- oder Resonanzraum für Musik. Einem Raum also, in dem sich das Potential der jeweiligen Musik mit maximaler Wirkung entfalten kann.
Ein Konzert, das zum Verweilen einlädt und in dem die Jagd nach der nächsten Nachricht und dem nächsten Post für zwei Stunden bewusst und mit Genuss unterbrochen wird. Ein Gemeinschaftserlebnis von großer Intensität und emotionaler Kraft. Ein Ort der Innerlichkeit, also in gewisser Weise das Gegenteil von Repräsentation.
Dabei ist mit dem »Raum« nicht der architektonische Körper gemeint, sondern ein Wirkungsraum, der von vielen verschiedenen Parametern abhängt. Alle beeinflussen sich gegenseitig und stehen zueinander in einer Wechselbeziehung. Was am Ende dabei zählt, ist die unmittelbar emotionale Wirkung der Musik - als Gegenmodell zum unbewussten Hören von Musik als Alltagsrauschen.
Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass in unserem stressigen Alltag mit seinen vielfältigen Ablenkungen und Unterbrechungen das Konzert nicht einfach ein weiteres Freizeitangebot sein sollte, sondern zu einem bewusst gewählten Raum für Rückzug, Kontemplation und Konzentration werden kann - und dass genau darin die Chance liegt. Ein Konzert, das zum Verweilen einlädt und in dem die Jagd nach der nächsten Nachricht und dem nächsten Post für zwei Stunden bewusst und mit Genuss unterbrochen wird. Ein Gemeinschaftserlebnis von großer Intensität und emotionaler Kraft. Ein Ort der Innerlichkeit, also in gewisser Weise das Gegenteil von Repräsentation.
Wenn man so das klassische Konzert denkt, sind Sonntagsreden über Bildungsaufträge obsolet. Das Konzert bekommt eine neue Funktion und kann ein offensichtlich wachsendes Bedürfnis vieler Menschen stillen. Um diese Vision der Aus-Zeit zu realisieren, reicht aber die traditionelle Konzertform nur selten aus. Und das potentiell zu gewinnende Publikum kommt erst gar nicht, weil die Vorstellung von Kleiderzwang und Langeweile sie abhält. Dabei kann man ein Konzert ganz anders erleben. Musik kann uns wie keine andere Kunstform unmittelbar berühren und Gänsehaut erzeugen. Nur muss man sich dafür mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf sie einlassen.
Bei Vorträgen über meine Arbeit frage ich das Publikum oft danach, an welche Konzerte sie sich erinnern. Meistens sind es die, die durch eine besonders emotionale, persönliche Situation aufgeladen waren. Oder die, in denen etwas Unvorhergesehenes passiert ist. An herausragende künstlerisch musikalische Momente erinnern sich die wenigsten. Eher an Skurriles. Eine meiner Konzert-Erinnerungen passt dazu: Für ein Konzert mit Cecilia Bartoli im Kammermusiksaal der Philharmonie setzten sich relativ viele Besucher aus dem hinter der Bühne liegenden Block auf die Stufen zwischen den teuren Plätzen vor der Bühne. Als es nach der Pause immer voller auf den Gängen wurde, kam der Saalmeister auf die Bühne und bat die Stufenbesetzer, ihre Sitzplätze wieder einzunehmen. Ein Tumult entstand, das Konzert konnte nicht weitergehen. Bis schließlich la Bartoli erschien und versprach, sie würde dafür sorgen, dass alle etwas sehen und hören könnten. Nachdem alle wieder auf ihren regulären Stühlen Platz genommen hatten, drehte sie sich während des Singens um ihre eigene Achse und sang in alle Richtungen. Das Problem war gelöst, die Begeisterung hatte keine Grenzen.
Diese Geschichte ist ein schönes Beispiel für den Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlichen Ereignis und der lebhaften Erinnerung daran. Durch die persönliche Ansprache fiel die Sängerin aus ihrer Rolle heraus, sie war nicht nur Künstlerin, sondern vermittelte und löste das Problem. Jeder im Publikum fühlte sich persönlich angesprochen, was ein starkes und nachhaltiges emotionales Erleben und große Aufmerksamkeit zur Folge hatte. Und ich bin sicher, dass alle, die dabei waren, sich an dieses Konzert erinnern.
Einen solchen Moment kann man nicht planen. Aber er zeigt, dass besondere Aufmerksamkeit und emotionales Erleben auf viele Arten entstehen kann, manchmal durch Zufall. Wichtige Faktoren für besondere Aufmerksamkeit sind sicherlich die Überraschung, der Ausbruch aus der Routine. Aufmerksamkeit entsteht auch, wenn ich als Zuhörer das Gefühl habe: Das geht mich persönlich etwas an, das interessiert mich. Ein Resonanzmoment.
Autor: Folkert Uhde