Kunst als darstellende Hervorbringung

Die voranschreitende Vernetzung der Welt hat zur Folge, dass lokale und nationale Fragestellungen untrennbar mit internationalen Entwicklungen verbunden sind. In dieser Zeit beschleunigter Bewegung und Komplexität, braucht es eine Kultur, die sich durch Mut, einer klaren Haltung und Positionierung auszeichnet.

Der Ukraine-Krieg hat nicht nur die westlichen Industrienationen erschüttert, sondern stürzt unsere ganze globalisierte Welt in den Konflikt. Er fordert auch von Kunst- und Kulturschaffenden eine Stellungnahme. Sich damit zu begnügen, keine Haltung zu zeigen, Kulturschaffen unter eine Glasglocke des Nicht-betroffen-Seins stellen zu wollen, reicht nicht mehr. Sich in die Betrachtung der bloßen Privatheit zurückzuziehen, sich im Unterhaltungsmodus wegzuducken, kann keine Antwort sein. Wenn überall auf der Welt neue politische Konflikte entflammen, darf die Kunst nicht zurückbleiben. Denn künstlerisches Arbeiten bedeutet immer auch reflektierte Zeitgenoss*innenschaft. Aber: Welche Rolle spielt Kunst dabei, welche Rolle kann Kunst dabei spielen? Was Kunst vermag, was Veränderung mit ihr und durch sie bedeuten kann, diese Frage bleibt der Thematik immanent. Denn das Kreative als Kunst sucht die Frage und nicht die Antwort.

Vor dem Hintergrund politischer Umbrüche in aller Welt kommt es nicht darauf an, wer wir sein wollen, sondern wer wir sind. Denn Kunst ist auch immer darstellende Hervorbringung. In einer Zeit, in der sich viele Selbstverständlichen auflösen, Corona die gesamte Kulturlandschaft vor einschneidenden Herausforderungen gestellt hat, Krieg wieder in Europa angekommen ist und der Klimawandel schon Gegenwart ist, braucht es eine Kultur, die sich durch Mut, einer klaren Haltung und Positionierung auszeichnet. Denn Kunst und Kultur sind auch Ausdruck von Humanität und können gerade in Krisenzeiten gesellschaftliche Prozesse der Fürsorge, Reparatur, Pflege und Heilung anregen. Auch im Sinne Eines-sich-Öffnens für die Dimensionen von Erfahrung, Erinnern und Vergessen, für das Emotionale und den Prozess des Erkennens.

 

Was Kunst vermag, was Veränderung mit ihr und durch sie bedeuten kann, diese Frage bleibt der Thematik immanent. Denn das Kreative als Kunst sucht die Frage und nicht die Antwort.

 

In der derzeitigen Situation wird jedoch auch deutlich, wie wenig flexibel der Klassikbetrieb auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren kann. Programme werden oftmals Jahre im Voraus geplant, dabei ist es wichtig, auf die relevanten Themen und drängenden Fragestellungen unserer Zeit zu reagieren. Notsituationen, wie wir sie jetzt erleben, mahnen uns, wie wichtig es ist, Anschlussfähigkeit wieder in den Fokus zu rücken. Proaktiv zu gestalten erfordert eine mitunter energische Bewusstseinsänderung. Nicht nur Pandemie und Krieg, sondern auch Nachhaltigkeit, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, Digitalisierung und demographischer Wandel fordern uns dazu auf, neue Konzepte zu entwickeln. Zentral dabei ist die Verantwortungsfrage. Blickt man auf klassische Leadership-Strukturen sollten auch die klassischen Intendantenmodelle überdacht werden. Es gilt, unsere gesellschaftliche Vielstimmigkeit auch im Konzertbetrieb strukturell und inhaltlich abzubilden – sei es auf der Bühne, hinter den Kulissen, in den Programminhalten und nicht zuletzt im Publikum. Ohne das bewusste Abgeben von Machtstrukturen, ohne die Bereitschaft, traditionelle Strukturen institutionellen Selbstverständnisses aufzubrechen, ist dies nicht zu bewerkstelligen.

Kulturschaffen unter eine unantastbare Glasglocke des Nicht-betroffen-Seins stellen zu wollen, reicht nicht mehr.

 

In einer Zeit, in der die sozialen Funktionen von Kunst und Kultur geschwächt oder teilweise ganz unmöglich sind, ist die Gestaltung vielfältiger Formen des Zusammenkommens von besonderer Wichtigkeit. Offen und durchlässig sollte der Kulturbetrieb sein, nahbare und ermöglichende Begegnungsräume statt unantastbarer Hoheitstempel wären ein Ziel, um im unmittelbaren Umfeld Menschen zu berühren und Anschlussmöglichkeiten und Identifikationsmomente gerade für ein neues Musikpublikum zu schaffen. Zu den wichtigsten Dingen, die Kulturorte und Kulturakteure dabei leisten können, gehören Kontakt, Begegnung und Berührung: zwischen verschiedenen Kunstwelten, Erfahrungen und Gemeinschaften; zwischen Wahrnehmungsformen, Denkweisen und Wissensfeldern; aber auch zwischen Szenen und Orten, ihren Geschichten und Realitäten.

 

Text: Julian Rieken