Eine Dramaturgie der Nähe

Das folgende Gespräch führte Irena Müller-Brozovic mit Hans-Joachim Gögl. Gemeinsam mit dem Berliner Konzertgestalter Folkert Uhde entwickelte er 2014 die Grundkonzeption der Reihe Montforter Zwischentöne und ist seither ihr künstlerischer Leiter. Das Interview entstand im Rahmen des Forschungsbands "Das Konzertpublikum der Zukunft: Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft". 

Hans-Joachim Gögl, wie lässt sich die Trägerschaft und Basiskonzeption der Montforter Zwischentöne beschreiben?

Die Montforter Zwischentöne sind eine Reihe, die sich mit neuen Formaten zwischen Kunst, Alltagskultur und regionaler Entwicklung auseinandersetzt. Musik und die Beschäftigung mit der Gestalt von Konzerten spielen eine Hauptrolle in unseren Programmen, die in unterschiedlichen Räumen in Feldkirch stattfinden. Unser Zentrum ist das 2015 neu eröffnete Montforthaus, ein Kultur- und Kongresszentrum mit einem großen Konzertsaal; Träger ist die Stadt, Hauptförderer das Land Vorarlberg. Die künstlerische Leitung besorge ich gemeinsam mit meinem Kollegen Folkert Uhde, der unter anderem Mitbegründer des Radialsystem Berlin ist.

Die Form der Zwischentöne ist speziell. Wir richten jeweils dreimal im Jahr – im Spätwinter, Sommer und Herbst – einen Schwerpunkt aus, der sich um ein Thema dreht, das der Ausgangspunkt für die Entwicklung aller unserer Formate ist. Das heißt, bevor wir uns in die Programmgestaltung zurückziehen, gibt es noch keinerlei fertige Aufführungskonzepte, wie zum Beispiel bestehende Projekte, die uns etwa von Kolleginnen und Kollegen angeboten werden. Im Mittelpunkt unserer Dramaturgie steht, zum jeweiligen Thema maßgeschneiderte Formate zu entwickeln. Dafür suchen wir Begriffe, die Prozesse anreißen, ausgedrückt durch Verben mit einem, ich würde sagen, intuitiven Resonanzfeld, mit einer Balance zwischen Projektionsfläche und konkreter Fragestellung, etwa: innehalten, streiten, warten, vorausgehen, anfangen etc.

Mit Themenschwerpunkten arbeiten auch andere Festivals. Aber eure Headlines sind meist einfach, mehrdeutig, unmittelbar zugänglich. Über welche Eigenschaften sollten diese Begriffe verfügen?

Ich würde sagen: über eine poetische Schwingung. Sie sind seelische und geistige Gravitationszentren, die zuallererst uns selbst anziehen und bei denen wir das Gefühl haben, es gibt auch bei unserem Publikum eine offene Frage, Kompetenz oder Sehnsucht dazu. Im gerade aktuellen Schwerpunkt beschäftigen wir uns zum Beispiel mit ›verlieren‹, das auch den Aspekt, des ›sich Verlierens‹ in sich birgt. Dabei entsteht ein Kaleidoskop an Zugängen, wie etwa einen Wettbewerb verlieren, einen geliebten Menschen oder ein Lebensgefühl. ›Sich verlieren‹ wiederum ist das Merkmal eines gelingenden Kunsterlebnisses: So stark in eine Verbindung zu kommen, dass man einen Moment aus sich selbst, dem eigenen Mindset gerät, sich also in einem produktiven Sinn verliert. Wir tasten diese Begriffe ab und versuchen sie offen zu halten für Andockungen.

Der Dreiklang eurer Schwerpunkte hat auch den Vorteil, dass ihr eine erhebliche Präsenz im Kulturkalender habt.

Er verbindet mehrere Qualitäten: Mit unseren Terminen im Februar, Juni und November weichen wir einerseits den üblichen Festivalterminen aus. Durch den Dreiklang haben wir aber auch die Möglichkeit, auf saisonale Stimmungen zu reagieren. Der Beginn des Advents evoziert ein ganz anderes Programm, als wenn das Licht im Februar wieder zurückkehrt. Und im Juni können wir Bewegung im Außenraum stärker einbeziehen. Ein großer Vorteil ist, dass wir im Kontakt mit unseren Besucherinnen und Besuchern bleiben. Nach den Zwischentönen ist vor den Zwischentönen.

Manchmal kamen wir schon ein wenig ins Grübeln, ob diese jährlichen Trilogien nicht zu viel für uns und das Publikum sind. Aber im Moment erleben wir den Dreiklang eher als Potenzial von Reaktions- und Beziehungsfähigkeit.

 

Spiel und Kontext

Wie entstehen eure Programme?

Einmal pro Jahr ziehe ich mich mit meinem Kollegen mehrere Tage zurück und wir erarbeiten gemeinsam das Programm bis in die Details einzelner Aufführungen. In der Entwurfsphase unserer Projekte denken wir nicht strategisch. Im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit steht die Gestaltung einer starken ästhetischen Erfahrung, hervorgebracht in einem eher intuitiven Prozess.

Danach betrachten wir aus der Vogelperspektive die Gewichtungen des Programms, die Struktur eines Festivaljahrs, und reflektieren diese mit dem Team. Unsere künstlerischen Visionen sind der primäre Zugang, erst in zweiter Linie kommt dann so etwas wie Vermittlung oder soziale Arbeit im engeren Sinn des Wortes ins Bewusstsein.

Das Entwickeln dieser Formate ist eine schöpferische Arbeit – nicht Kuration, bei der es oft um eine spezifische Präsentation bestehender Werke bzw. Künstlerinnen und Künstler geht, nicht Vermittlung im Sinne von Didaktik.

Zahlreiche meiner Arbeiten sind mit der Entwicklung von Spielen verwandt. Präzise formulierte Regeln, die unabhängig von ihren Teilnehmenden eine spezifische, wiederholbare Gestalt ermöglichen. Es sind keine Drehbücher im engeren Sinn, eher Erfindungen von Ordnungen, Rhythmen, Abläufen. Der Kern mancher unserer Projekte besteht aus ›merkwürdigen‹ Kontextualisierungen – wir laden zum Beispiel einen Historiker ein, der über Geschichten zum Thema Zivilcourage während der NS-Zeit hier in der Stadt berichtet, und integrieren ihn auf eine spezielle Art und Weise in die Matthäus-Passion. Oft interessiert uns, ein improvisiertes Element mit einer festen Form zu konfrontieren.

Welche Aufgabe haben in deinen Formaten improvisatorische Elemente, welche festgeschriebene?

Es geht in jeder Arbeit darum, ein Potenzial für Lebendigkeit und Verwandlung zu schaffen. Ich neige eher dazu, wenn möglich nicht zu proben, sondern einen so starken Rahmen vorzugeben, dass sich die Mitwirkenden darin sicher und aufgehoben fühlen. Alle wissen genau, wann und wo sie auftreten, wie sie etwa beleuchtet sind und wie lange sie agieren sollen, aber ich bin selbst gespannt, welche Geschichte ausgewählt und erzählt wird und lasse meine Vorstellungen dazu los. Wenn jemand dann fünf Minuten überzieht oder etwas anderes macht, als vereinbart, finde ich das interessant. Ich werde zwar im Vorfeld alles dafür tun, dass die geplanten Strukturen halten, aber dann beginnt das freie Spiel. Oft wird es besser als gedacht.

Wenn wir mit ›klassischen‹ bzw. bestehenden Werken arbeiten, dann sind diese natürlich geprobt. Doch die Musikerinnen und Musiker wissen, an dieser Stelle gibt es jenen Einschub oder diese Form von ›Vernähung‹ mit etwas, das sich im Hier und Jetzt ereignet.

Improvisierte Flächen innerhalb eines Formats erzeugen eine kostbare Form der Wachheit zwischen den Auftretenden, die sich auf das Publikum übertragen kann.

Diese einmalige Energie von Aufmerksamkeit, gilt es zu beschützen. Natürlich gibt es einen Soundcheck, man trifft sich vorher und es werden gemeinsam die Spielregeln des Abends präzise besprochen, aber manchmal wird bewusst nicht probiert, um die unwiederholbare, im besten Sinn ›gefährliche‹ Exklusivität der ersten Begegnung zu nutzen.

Kannst du dazu ein Beispiel geben?

Ein Format zu unserem Schwerpunktthema »schweigen« bzw. Leere bestand darin, dass ein Keramiker und ein Drechsler auf der Bühne jeweils ein großes Gefäß, das heißt einen Leerraum innerhalb seiner Wände, herstellten. Ein Pianist improvisierte am Klavier dazu. Drei Kameras übertrugen die Arbeit der Meister auf eine Leinwand, sodass das Publikum sehen konnte, was die drei mit ihren Händen taten. Nach exakt 45 Minuten wurden die beiden Gefäße und auch die musikalische Gestalt in einem gemeinsamen Schlussakkord vollendet.

So etwas möchte ich vorher nicht probieren, sondern die drei sollen mit ihrer ganzen Präsenz gegenwärtig sein. Der Pianist achtet darauf, was der Keramiker jetzt dreht, was da in laufenden Wiederholungsgesten entsteht, und wie beim Drechsler immer mehr Holz aus dem Block rausspritzt. Unser Geist kombiniert diese scheinbar unverbundenen Elemente, die Holzspäne, die ins Publikum stieben, die feuchte Wand aus Ton, die zwischen den Fingern des Töpfers wächst und wächst, und den Musikkörper, der sich parallel dazu aufbaut.

Montforter Zwischentöne – Die Leere drehen

Wo findet ihr eure Künstlerinnen und Künstler? Auffällig ist, dass neben bekannten Namen immer wieder regionale Ensembles in eure Programme integriert sind.

Wir laden regelmäßig die besten Musikerinnen und Musiker der Region ein und bringen sie ins Zusammenspiel mit internationalen Leuten. Damit holen wir ein schon bestehendes Bezugsfeld für die Zwischentöne herein. Die Förderung regionaler Kulturschaffender sehen wir als selbstverständlichen Teil unserer Verantwortung als Festivalleiter.

Gleichzeitig organisieren wir ganz gezielt Impulse von außen. Aufgrund unserer Arbeiten neben den Zwischentönen – Folkert Uhde gestaltet etwa auch die Köthener Bachfesttage und ich mit INN SITU ein Kulturprogramm für das BTV Stadtforum in Innsbruck – gibt es ein reichhaltiges, laufend wachsendes Netzwerk an Künstlerinnen und Künstlern, die sich in neuen Konzertformaten wohlfühlen oder auch schon selbst an besonderen Projekten arbeiten.

Bevor wir mit den Zwischentönen gestartet sind, haben wir die wichtigsten Vertreter der Klangkörper der Region eingeladen und ihnen unser Konzept vorgestellt – um sich gegenseitig kennenzulernen, zu informieren und auch um zu hören, wer Lust hätte, mitzumachen.

 

Aspekte einer Dramaturgie der Nähe

Sprechen wir über ein paar der zentralen Elemente eures Zugangs zu Konzertformaten. Einer ist zum Beispiel die Adressierung von Biografie und Lebensgeschichten des Publikums.

Wir eröffneten die Montforter Zwischentöne mit dem Schwerpunktthema »anfangen – Über das Beginnen«. Beim Nachdenken über Erfahrungen dazu, sind wir, gemeinsam mit dem Künstler Mark Riklin, auf den Beginn von Liebesbeziehungen gestoßen, auf diese skurrilen, erhabenen, banalen, von langer Hand geplanten, spontanen, witzigen, immer aber signifikanten Momente für unsere Existenz. Da gibt es in jeder Familie, an jedem Ort einen ungehobenen Schatz an außergewöhnlichen Geschichten. Wir haben also Geschichtensammlerinnen und -sammler ausgebildet, die in ihren Freundeskreisen begonnen haben, diese Erlebnisse aufzuspüren. Das Ergebnis war eine Ausstellung im Foyer des Montforthauses, in der man vor oder nach dem Konzert diese vielen Erinnerungen lesen konnte.

Daraus wählten wir dann einzelne Geschichten aus, die uns die Betroffenen in die Kamera erzählten und die wir dann in den Kontext von barocken Liebesliedern stellten. Ein Live-Ensemble spielte also Musik, die das gleiche Thema hatte wie die jeweilige Geschichte. So entstand eine Video-Ebene in einem Konzert, in dem Menschen aus der Region – betagte, gleichgeschlechtliche, schon lange geschiedene oder frisch verheiratete ihre geglückten oder gescheiterten Liebesanfangsgeschichten erzählten.

Am Ende des Konzertes kam jemand zu mir und sagte: »Die Alte Musik war neue Musik!« Ihr sei erst jetzt zum ersten Mal bewusst geworden, dass ein Lied von Jean-Baptiste Lully aus dem 17. Jahrhundert die gleiche Emotion thematisiere wie die Geschichte des Liebespaars, das sich vor zwei Jahren dreimal am Telefon verwählt und sich so kennengelernt habe.

Neben biografischem Material expandiert ihr mit euren Formaten bis in das private Umfeld eures Publikums.

Einen ganz einfachen Aspekt von Nähe veranschaulicht etwa unsere Reihe »Salon Paula«, in der wir Aufführungen am Küchentisch oder in den Wohnzimmern unseres Publikums veranstalten. Abgestimmt auf unseren Schwerpunkt nominieren wir Solisten aus Musik, Wissenschaft, Kunst oder Alltagskultur. Alle Haushalte Vorarlbergs können sich als Gastgeber bewerben. Wir bezahlen die komplette Gage, die Expertin oder der Musiker kommt zu dieser Person nach Hause und gibt einen halbstündigen inhaltlichen oder musikalischen Input, dann tauschen sich alle dazu aus. Eingeladen werden Freunde und Familie – uns ist es ganz gleich, ob das fünf Leute oder 25 sind. Vor der Eingangstür hängen wir ein Plakat auf und begrüßen als Intendanten vor Ort. Wir sagen dann am Küchentisch der Studierenden-WG, einer Villa oder Sozialwohnung: »Willkommen bei den Montforter Zwischentönen« – eine Barriereüberschreitung, indem wir den Konzertsaal privatisieren.

Ihr kennt die aktuellen Fragestellungen der Stadt, seid laufend mit den Entwicklungsabteilungen von Feldkirch und dem Land Vorarlberg im Austausch. Stimmt es, dass dies sogar in einem Kooperationsvertrag mit Feldkirch festgeschrieben ist?

Ja, damit sichern wir den Kontakt zum und die Relevanz des Festivals für unseren wichtigsten Fördergeber, und so entstehen immer wieder Formate, die sich auf eine gesellschaftspolitische Fragestellung der Region beziehen. Zum Beispiel gibt es in Vorarlberg einen Konflikt zwischen Naturschutz und Wirtschaftsunternehmen, die in der Grünzone bauen wollen.

Bürgerinitiativen und Naturschützer kritisieren: Ihr zersiedelt das Land. Die Unternehmen entgegnen: Ihr verunmöglicht uns Wachstum. Eine wichtige Fragestellung und ein produktiver Konflikt für eine Formatentwicklung. Für uns stellt sich die Frage: Ist es möglich, mit einem künstlerischen Vokabular diesen Konflikt für beide Seiten fruchtbar zu thematisieren? Das Ergebnis war eine Art tänzerisch-musikalische Familienaufstellung, mit improvisierten Verkörperungen der Konfliktpartner.

Manchmal greifen wir auf kollektive Kompetenzen in der Stadt oder Region zurück, die wir integrieren und deren Wissen uns zu neuen Arbeiten inspiriert, zum Beispiel ein Verein, ein Unternehmen, eine Schule. Ein Beispiel dazu: Im Herbst 2018 lautete unser Schwerpunkt »sterben – Über das Loslassen«. Dieses Thema führte uns zu den Sterbebegleiterinnen und Sterbegleitern der Hospizbewegung Vorarlberg, rund 200 Menschen, die sich in der Region ehrenamtlich dazu engagieren. Wir haben einen Abend entwickelt, in dem vier von ihnen frei von ihren Erfahrungen erzählen. Ein Cellist sitzt im Publikum und antwortet auf jede der vier Erzählungen unmittelbar mit einem Stück aus seinem Repertoire – keine Improvisation, aber ein Bei- spiel, wie wir mit einem klassischen Musiker gearbeitet haben, der auf einen Impuls reagiert. Die Anweisung: Bereite etwa 12 Stücke vor und entscheide beim Zuhören (und du weißt vorher nicht genau, was die Hospizleute erzählen werden), wie du darauf antworten willst. Dieser Abend eröffnete uns die Möglichkeit, mit einer Kompetenz, die in dieser Region vorhanden ist, zu arbeiten. Was uns besonders gefreut hat, war, dass die Hospiz-Szene dann auch wirklich ins Konzert gekommen ist. Daraus entstand eine dauerhafte Beziehung.

Am Beginn der Entwicklung eines solchen Formats steht nicht der explizite Wunsch, mit der Hospizbewegung zu arbeiten, sondern eine Art Innehalten, das ein Feld aktiviert, in das wir hineinhören und in dem ein Bild auftaucht, wie zum Beispiel, dass ein Arzt oder ein Priester im Zusammenspiel mit einem Stück von Johann Sebastian Bach frei von einer Begegnung mit einer Sterbenden erzählt, die sein Leben verändert hat.

Eine Reihe eurer Aufführungen finden im klassischen großen Konzertsaal des Montforthauses statt, ihr bespielt aber unter anderem auch das alte Hallenbad oder den Dom der Stadt. Welchen Stellenwert haben neue physische Räume für eure Arbeit?

Über die Bedeutung von kulturfernen Räumen ist schon viel gesagt worden. Im Theater ist die Nutzung besonderer Spielstätten ein, ich würde sagen, Standard des Ausdrucksrepertoires. Auch wir nutzen Räume abseits des Konzertsaals, überraschen mit einem bisher ungesehenen Zusammenhang zwischen Ort und Stück, verwenden die Neugier auf manche Locations als Anziehungskraft oder beschützen mit der Unperfektheit eines Ortes die Rauheit, das Experimentelle eines Werks. Für die Rezeption eines improvisierten Ereignisses ist es natürlich von zentraler Bedeutung, ob es in einem eleganten Saal oder in einem Rohbau stattfindet. Ein wichtiger Aspekt für uns ist, damit vielleicht auf die ungesehenen Potenziale von Stadträumen hinzuweisen und indirekt den öffentlichen Raum zu stärken.

Welchen Stellenwert haben Beteiligung und partizipatorische Strategien für euch?

Mich interessieren Konstellationen, die zur Entwicklung eines kollektiven Werks führen, also eigentlich das Erlebnis der Übersteigung des Individuellen. Bei einer Arbeit, zu der wir das niederländische Künstlerkollektiv Moniker und das Liechtensteiner Ensemble Klanglabor eingeladen hatten, bekam das Publikum Kostüme und eine Anweisung, wie es sich bewegen solle. Eine Kamera nahm das von oben auf, in der Pause wurde diese Aufnahme beschleunigt, geschnitten sowie farblich korrigiert und im zweiten Teil sahen die Teilnehmenden sich dann selbst in einem Videoclip, zu dem Klanglabor live musizierte. Als normalerweise passiv Zuschauende wurde das Publikum so Teil eines schöpferischen Prozesses und war dabei nicht in seiner Laienhaftigkeit ausgestellt, sondern die Spielregel, die Form war so stark, dass sie ein souveränes Werk hervorzubringen vermochte.

Die Rolle des Publikums als Teilnehmer- aber vor allem Teilgeberin ist immer essenziell. Jeder Abend ist eine Co-Kreation. Die Qualität der Aufmerksamkeit verändert die Farbe der Aufführung. Heute wissen wir aus den Neurowissenschaften, dass alle im Saal auf eine direkt physische Weise miteinander interagieren. Und ich bin immer wieder überrascht, wie schnell sich die Besucherinnen und Besucher in die angebotene, meist ungewohnte Ordnung einfügen. Natürlich gibt es dazu wichtiges Erfahrungswissen und organisatorisches Handwerk. Aber grundsätzlich erleben wir das Publikum als neugieriger, offener und freundlicher, als man es sich manchmal in einer schlaflosen Nacht vor der Uraufführung ausmalt.

 

Rahmen und Impuls

Auch hier ist das Ziel ein Ausbalancieren von Struktur und Freiheit?

Ja, wie oben angedeutet, geht es im Grunde genommen darum, ›chaordische‹ Systeme zu kreieren, also eine Gestalt, die genau so viel Chaos integriert, dass Lebendigkeit, Fluss im Hier und Jetzt entstehen kann: eine besondere Qualität von Geistesgegenwart, ein schöpferischer, kreierender Zustand.

Gleichzeitig braucht es dafür Ordnung, einen stabilen Rahmen, der das Werk begrenzt. Was darin stattfindet, ist ungeplant und immer interessant, jenseits von Zweck und Ziel. Ich habe von solchen dynamischen Formen klare Vorstellungen, ein präzises inneres Bild, wie das Ereignis in der Grundstruktur sein soll.

Diese Lebendigkeit kann man natürlich auch in traditionellen Konzertformaten erleben, mit ihrer scheinbar nur homöopathischen Form von Chaos und ihrer hohen Dosis von Ordnung. Diese Form war, wie wir wissen, ebenfalls ein Ausdruck bewusster, gestalterischer Entscheidungen, die hauptsächlich im 19. Jahrhundert getroffen wurden. Aber auch sie führt immer in eine unwiederholbare, exklusive Begegnung im jeweiligen Zeit-Raum, in ein einzigartiges Zusammenspiel.

Wo siehst du die Herausforderungen bei der Gestaltung neuer Konzertformate im klassischen Musikbetrieb?

Unser Publikum erwartete anfangs natürlich die übliche Konzertform (klassisches Stück, zeitgenössisches Stück, Prosecco-Pause, romantisches Werk, Zugabe, bitte nur eine) und wir bekamen in den ersten Monaten immer wieder das Feedback, es sei nicht klar, um was es denn an den verschiedenen Abenden gehen wird, wer damit gemeint ist, wie der Abend ablaufen wird. Ist das jetzt eher ein Konzert, eine Performance, eine Ausstellung – und wenn all das nicht, wie nennt man das eigentlich?

Ich glaube, dass heute ein großer Teil des Publikums genau deshalb kommt! Das heißt vor allem, dass man für den Aufbau einer solchen Dramaturgie Atem, Zeit benötigt – aber auch eine intensivere Kommunikation. Dazu sind beispielsweise ergänzende – neue digitale und analoge – Medien notwendig.

Eine zweite Herausforderung war, dass wir bei manchen Künstlerinnen und Künstlern gegen das Vorurteil anzukämpfen hatten, dass wir mit unseren Projekten die Musik schwächen würden, dass die Integration nicht-musikalischer Elemente in ein Konzert eine Art Misstrauensantrag gegen die Musik wäre. Manchmal kommt dieser Einwand aus der Haltung, die traditionelle Form des klassischen Konzerts für sakrosankt zu erklären. Jean Cocteau sagte einmal, manche Menschen bewohnten die Ruinen ihrer Gewohnheit. Ein bloß routiniert gespieltes Konzert erinnert mich gelegentlich an diesen Satz.

Gleichzeitig ist mir dieser Einwand aber auch wichtig! Diese Fragen müssen wir uns immer wieder stellen: Was stärkt das Werk, wann führt ein Element zu Verdünnung, zum Unterhalten statt Innehalten? Die Vision meiner Arbeiten ist immer, eine Art Organismus zu schaffen, der zu einer so intensiven Begegnung mit uns selbst und der Welt führt, dass wir danach nicht mehr dieselben sind.

Hans-Joachim Gögl, herzlichen Dank für das Gespräch!