Stell’ dir vor, es ist Konzert, und keiner geht hin!

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine nachwachsende Generation von Musikkonsumenten gar kein Interesse mehr an klassischer Musik hat, weil weder die Eltern noch sie selbst damit sozialisiert wurden oder in der Schule und in den Medien damit konfrontiert wurden, wächst. Sind die frühe Musikrezeption und das eigene aktive Musizieren entscheidend für den späteren Umgang mit klassischer Musik?

Vor über fünfzig Jahren untersuchten die Soziologen Pierre Bourdieu und Alain Darbel in ihrer internationalen Museumsstudie das Verhalten von Museumsbesucher*innen. Anhand dieser statistischen Untersuchungen wird deutlich, dass Kultur eine besondere Erziehung und Bildung als Mittel ihrer Besitzergreifung voraussetzt. Um zukünftige Publika für klassische Musik zu gewinnen, bedarf es also einer Stärkung der kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung. Denn Interesse und Bereitschaft, Möglichkeit und Fähigkeit zum eigenen kulturellen Engagement und Teilhabe an der Gesellschaft werden mit und durch Musik und Kultur gestärkt.

Das Interesse an einer Musik, die mehr ist als bloße Unterhaltung, wird von Menschen an Menschen weitergegeben, von älteren an jüngere, von Lehrern an Schüler. Die Kunst des Zuhörens und das Bewusstsein dafür, dass es sich lohnt, mehr über Musik zu lernen, um in ihren Tiefen neuen Erfahrungen schöpfen zu können, kann man sich im Selbststudium unmöglich erschließen. Genauso wenig wie das aktive Musizieren selbst. Wer Musik verstehen oder musizieren möchte, braucht Lehre. 

Kent Nagano

Statt Menschen mit geringem Bildungshintergrund aus der Pflicht zum Musikkonsum zu entlassen, müssen die Bildungsvoraussetzungen geschaffen werden, um deren Teilhabe am Klassikbetrieb zu ermöglichen. Klassische Musik muss zugänglich sein, im pekuniären, aber vielmehr auch im bildungsästhetischen Sinne. Doch es geht nicht um die Popularisierung oder Trivialisierung der Künste, sondern um die Anerkennung der kulturellen Pluralität und Einbeziehung des sozio-kulturellen Wandels der Gesellschaft. Wenn ein Land es nicht schafft, seine kommenden Generationen für Kultur zu begeistern, steht das kulturelle Erbe am Ende ohne Erben da. Und es ist gerade die Würdigung und Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes, die as die Grundlage einer individuellen und gemeinsamen Identität eines Landes ausmacht. 

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine nachwachsende Generation von Musikkonsumenten gar kein Interesse mehr an klassischer Musik hat, weil weder die Eltern noch sie selbst damit sozialisiert wurden oder in der Schule und in den Medien damit konfrontiert wurden, wächst. Dabei sind die Musikrezeption über Aufnahmen oder in Konzerten und auch das eigene aktive Musizieren entscheidend für die musikalische Sozialisation und den späteren Umgang mit klassischer Musik. Kai-Michael Hartig, Leiter der Körber-Stiftung deutet darauf hin, dass „wer in seinem Alltagsleben keinen Bezug zur Musik hat, weiß auch die Konzerthäuser weniger zu schätzen.” Die Instrumentalaktivität ist der Schlüssel für die Entwicklung eines an klassischer Musik interessierten Publikums in den kommenden Jahrzehnten, während ein Fokus auf Rezeption und Unterricht nicht ausreichend sein wird. Eine aktuelle Studie, welche das klassische Konzertpublikum in Frankreich untersucht hat, belegt diese Annahme. Laut der Studie haben 54% der befragten Konzertgänger eine musikalische Ausbildung, 25% sogar in einer Musikschule. Bei den unter 25-Jährigen liegt der Anzahl der Konzertgänger mit musikalischer Ausbildung sogar bei 77%, während 50% mindestens 5 Jahre in einem Konservatorium studiert haben.

Die meisten Studien führen das Desinteresse junger Menschen an klassischer Musik auf Gründe im Bereich Bildung sowie fehlendem Musikunterricht zurück. In einem Bericht zur ARD-E-Musikstudie 2005 heißt es beispielsweise, dass die musikalische Sozialisation, insbesondere im Kindes- und Jugendalter „erhebliche Bedeutung für die Herausbildung und Differenzierung des musikalischen Geschmacks“ hat, da „in dieser Zeit [...] die musikalischen Interessen, ihre Stabilität sowie bestimmte Rezeptionsmuster maßgebend geprägt [werden].“ Dieser Zusammenhang von Musikkonsum bzw. aktiven Musizieren im Kindes- und Jugendalter und der späteren Musikpräferenz ist inzwischen unbestritten. Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger sieht die gesellschaftliche Aufgabe des Musikunterrichts darin, „dem Vorurteil entgegenzuwirken, E-Musik sei nur etwas für wenige auserwählte.“ Dassß es derzeit „schlecht um die musische Erziehung bestellt ist, liegt weniger an mangelnden kreativen Konzepten, die Krise des Musik ist eine strukturelle. ..Es bringt nicht viel, den Schülern nur einfach irgendwelche Stücke von Bach bis Schönberg vorzuspielen. Die Kinder müssen selber die Instrument ausprobieren können, um tiefer in die Komposition einzudringen.“ 

In Anlehnung an Bourdieu’s Museums-Studie wird das fehlende Klassik-Publikum kommender Generationen nicht als ältere Generation wieder in den Konzertsaal zurückkehren, wenn sie nicht frühzeitig mit den Inhalten konfrontiert und sozialisiert wurde. Die Untersuchungen und Computersimulationen von Hamann unterstützen die These, dass die Altersentwicklung des Publikums überwiegend als Kohorteneffekt und nicht als lebenszyklischer Effekt gedeutet werden muss. Die Altersstruktur bei klassischen Konzerten ließ lange ein steigendes Interesse an dieser Musikrichtung nach dem 40. Lebensjahr vermuten (lebenszyklischer Effekt). Man nahm an, dass ein bestimmtes Verhalten von bestimmten Lebensumständen abhängt und sich mit dem Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt verändert. Das würde bedeuten, dass das Interesse für Klassik vom Lebensalter abhängt und sich die Entwicklung der Klassikbesucher unter Berücksichtigung der erwarteten Bevölkerungsstruktur stabil weiterentwickeln würde. Die Tatsache, dass die prozentualen Anteile der Klassikbesucher innerhalb der verschiedenen Altersgruppen im Zeitverlauf jedoch keiner konstante Entwicklung unterliegen, widerspricht dieser These. Zwischen 1993 und 1994 sowie zwischen 2004 und 2005 sank beispielsweise der Anteil der 35- bis 49-Jährigen um 13%. 

Hammans Untersuchungen zeigen auch, dass das Kulturverhalten oder die kulturellen Einstellungen an bestimmte Jahrgänge geknüpft sind und eine Generation mit ihren Wertehaltungen und Kulturvorlieben alle Altersstufen durchlebt. Wer als Kind in Berührung mit klassischer Musik kommt und dafür eine Präferenz entwickelt, trägt diese durch das gesamte Leben mit. Es sind die generationsspezifischen Prägungen in der Kindes- und Jugendzeit, die auch im Alter die Richtung des Musikgeschmacks vorgeben. Ob das Klassikpublikum überwiegend einem solchen Alters-/lebenszyklischen Effekt oder einem Kohorteneffekt unterliegt, wird sich entscheidend auf die zukünftige Entwicklung von Publikumsgröße und –zusammensetzung auswirken.

 

Denn die Entwicklung der grundlegenden musikgeschmacklichen Orientierung – der Begriff bezieht sich auf ganze Musikgenres, z.B. klassische Musik, Jazz, Pop-/ Rockmusik und Volksmusik, und nicht auf Subgenres – erfolgt während einer Sozialisationsphase in der Kindheit und Adoleszenz. Mende und Neuwöhner sind ebenfalls Vertreter dieser These: „Die im Kindes- und Jugendalter erfahrene musikalische Sozialisation […] hat erhebliche Bedeutung für die Herausbildung und Differenzierung des musikalischen Geschmacks.“ Nach Abschluss dieser Sozialisationsphase stehen die präferierten Musikgenres für das weitere Leben fest. Einzelne „Konvertierende“ fallen in Bezug auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse nicht ins Gewicht. Nach der Bildung des grundlegenden Musikgeschmacks findet durchaus eine musikgeschmackliche Weiterentwicklung statt, sie vollzieht sich jedoch meist innerhalb des von einem Individuum bevorzugten Musikgenres. Das bedeutet, dass eine klassikaffine Person, die hauptsächlich mit Barockmusik aufgewachsen ist, aufgrund langjähriger Rezeption von klassischer Musik durchaus den Zugang zur zeitgenössischen Musik im späteren Leben finden kann. 

Diese Erkenntnisse machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche während ihrer musikalischen Sozialisation wesentlich stärker an die klassische Musik herangeführt werden müssen, da insgesamt die massenmediale Omnipräsenz des Rock- und Popsektors die vormalige selbstverständliche Zugehörigkeit klassischer Musik zum gesellschaftlich anerkannten Musikkanon vermindert hat. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die keine musisch-orientierte Schule besuchen, kommen wenig mit  Orchestermusik in Verbindung. Nach Schätzungen der Deutschen Orchestervereinigung fällt an deutschen Schulen bis zu 80% des Musikunterrichts aus oder wird  fachfremd erteilt. Der Auftrag der Schulen, auch im Bereich Musik eine grundlegende Bildung zu vermitteln, wird heute kaum mehr eingelöst. Dabei „[…] liegt offenbar ein entscheidender Schlüssel für den Zugang zu dieser Musik“ im „sehr unterschiedlichen Erleben der Begegnung mit klassischer Musik in der Schule“, schreiben Annette Mende und Ulrich Neuwöhner. 

Darüber hinaus besteht ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und kultureller Inklusion bzw. Exklusion. Daher ist auch die musikalische Prägung im Elternhaus entscheidend für die späteren musikalischen Vorlieben. Eine Studie des Zentrums für Kulturforschung aus dem Jahre 2006 sieht das Elternhaus als wichtigsten Einflussfaktor (sogar noch vor der Schule). Dabei spielt aber nicht nur eine Rolle, dass und wie oft eine solcher Kontakt stattgefunden hat, sondern das diese Kontakte mit positiven Erlebnissen verknüpft wurden. Für die Herausbildung musikalischer Interessen ist insbesondere das subjektive Erleben der verschiedenen Faktoren entscheidend. Doch eine Elterngeneration, die meist selbst nicht zu den Konzertgängern gehört, wird, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die für die die musikalische Sozialisation so wichtigen Erstkontakte ihrer Kinder mit klassischer Musik sorgen, die für die musikalische Sozialisation so wichtig sind.

 

Autor: Julian Rieken