Komm! ins Offene, Freund!

Corona hat die Kultur in eine Art Zwischenzustand versetzt: Zwischen Sein oder Nichtsein, zwischen analoger Stille und digitalem Pausenprogramm, zwischen Stillstand und Dauerbetrieb, zwischen Denkpause und Neuerfindung, zwischen globaler Orientierung und lokaler Fokussierung. Wie kann Kunst und Kultur mit dem derzeitigen Dazwischen-Seins konstruktiv-spielerisch umgehen? Wie lässt sich die Kultur wieder in Bewegung setzen und beleben?

Back to Normal oder Epochenwechsel? Ein vollkommenes Zurück wird es vermutlich nicht mehr geben, das Vorwärts ist noch undefiniert. In einer Zeit in der sich viele Selbstverständlichen auflösen, braucht es eine gesunde Kultur, die von kreativer Phantasie geprägt ist. Sowie eine Politik, die gestaltet statt verwaltet. Das konservative Konzept Bewahrung funktioniert in einer Zeit des radikalen Wandels nicht mehr. Anstatt in der Erstarrung zu verharren und auf die Wiederkehr der Vergangenheit zu warten, braucht es Visionen für die Zukunft. Folgen wir den Aufruf Hölderlins: „Komm! ins Offene, Freund!“

Während die meisten zeitdiagnostischen Aussagen von heute sich in symptomatischer Weise der Präposition post bedienen – Postmoderne, Postmaterialismus, Postindustrialismus – sollten wir versuchen, die vorherrschende Blickrichtung mal umzukehren. Was zeigt sich dem Realität sondierenden Blick, wenn man die Gegenwart nicht mehr nur als Nach-Vergangenheit versteht? Welche Horizonte gehen auf, wenn wir im Jetzt nicht nur den Hohlraum sehen, der vom Verschwindender eben noch dominierenden Aktualität zurückgelassen wird, sondern auch schon den Vorschein der Zukunft? Was heißt es, in einer Zeit wie dieser sich eine Zukunft vorzustellen?

Jeder kennt die Geschichte von Alice im Wunderland – das Kinderbuch gehört zu den absoluten Klassikern der Weltliteratur. Auf ihrer mehr als wundersamen Reise begegnet Alice der berühmt-berüchtigten Grinsekatze und fragt sie: „Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?“ – „Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest“, antwortet die Katze. Ähnlich wie Alice beschäftigen wir uns mit der Frage: Wie weiter? Gehen wir von alten Beständen aus und hoffen auf die Wiederkehr des bereits Bekannten? Oder einigen wir uns auf Zielrichtungen und entscheiden selbst, wohin wir gehen wollen? Verlieren wir uns in Hashtag-Nebenschauplätze oder fangen wir an, gemeinsame und mutige Zukunftsvision zu entwickeln und Gestaltungswillen in Handeln zu übersetzen? Der Maler Pablo Picasso hatte für sich eine spannende Antwort gefunden. Er sagt: „Ich suche nicht – ich finde. Suchen" – so schreibt Picasso weiter – „ist das Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwollen von bereits Bekanntem. Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.“

Ich suche nicht – ich finde. Suchen ist das Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwollen von bereits Bekanntem. Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.

Pablo Picasso

Wie kommen wir vom Suchen zum Finden? Wie bekommen wir den Mut, den Schritt ins Offene zu wagen? In ihrer Fähigkeit, Situationen in Sekundenbruchteilen zu erfassen, ihre Aktionen und Reaktionen entsprechend anzupassen und auch unter Druck richtige Entscheidungen für das Gelingen einer gemeinsamen Aufgabe treffen zu können, ist die Improvisation die Kunst der Stunde. Improvisation bedeutet, beweglich zu sein: auf (neue) Situationen angemessen und empathisch eingehen zu können und sich verändern zu lassen. Der Impuls des Gegenübers wird aufgenommen und als weiterer Erzählstrang oder Geschichte weiterentwickelt. Das eröffnet Szenen, lässt Themen sich entfalten und erlaubt Ungeplantes und Unvorhergesehenes. Improvisation bedeutet auch, Mut zu Fehlern zu haben und darauf agil reagieren zu können. Könnte die Improvisation als gesellschaftliche Idee ein solcher Impuls für eine neue Zukunft von Kunst und Kultur sein?

 

After the revolution, who’s going to pick up the garbage on Monday morning? 

Mit dieser Frage offenbarte die Künstlerin Mierle Ladermann Ukeles, die als Artist-in-residence der Sanitärbetriebe von New York in den 60er Jahren die feministische Kunstszene aufwirbelte – das Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Pflege, Neuem und Bestand, Revolution und Evolution, Zerfall und neuer Energie. Nach der Revolution muss es auch Menschen geben, die diese Änderungen mittragen, gestalten und organisieren. Wir müssen also sicherstellen, dass es auch nach Corona noch genügend Kulturakteure gibt, die sich für eine lebendige und vielfältige Kultur ein- und sie auch umsetzen können. Das wir nicht unzählige Menschen verlieren, die ihren Beruf wechseln mussten. Das insbesondere junge Künstler:innen weiterhin Zukunftsperspektiven haben.

Dafür braucht es mehr Förderung für Kultur in der Fläche, Innovation und Soziokultur. Kulturförderung ist sowohl gesellschaftliches Risikokapital für kulturelles Experimentieren als auch Investition in kreative Innovation. Es braucht eine Förderkultur und Förderpraxis, die auf langfristige Entwicklung und nachhaltige Transformation setzt. Um Entwicklung zu ermöglichen, müssen Festivals, Künstler:innen und Ensembles in die Lage versetzt werden, langfristig zu planen und entwickeln zu können. Neue Rahmenbedingungen und Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, strukturelle und grundlegende Probleme, die in der Kulturszene schon lange vor Corona existierten, endlich anzugehen. Neue auf Entwicklung setzende Finanzierungs- und Förderungsmodelle können eine weitere Prekarisierung freier Kulturakteure verhindern. Die große Herausforderung für Kunstbetrieb und Kulturpolitik in Deutschland besteht darin, neben der Stärkung der freien Szene auch die bestehenden Institutionen gemeinsam mit neuem Publikum, neuen Nutzer:innen, neuen Akteur:innen zu verändern. Zudem müssen dem institutionalisierten Kulturbetrieb neue, flexiblere Organisationsformen entgegengesetzt werden, die auch kulturelle Interessen zukünftiger Generationen berücksichtigen.

Wir brauchen auch dringend eine zukunftsorientierte Debatte über die Grundlagen des Musikbetriebs und wie wir eigentlich Erfolg definieren. Bedeutet Erfolg zu haben, weltweit so viele Menschen zu erreichen oder die Menschen vor Ort nachhaltig zu berühren? Ist es wichtiger, als Musiker:in international sichtbar und erfolgreich zu sein oder auch Zugänge und Räume der kreativen Begegnung in der eigenen Region zu schaffen? Ist Erfolg, möglichst viele digitale Clickzahlen zu generieren oder lebendige Beziehungen aufzubauen, die entstehen, wenn aus Kulturkonsumenten Teilnehmer:innen werden und aus Teilnehmer:innen sogar Teilgeber:innen? Dafür brauchen wir neue Kooperationsformen, lokale und regionale Verankerungen sowie nachhaltige Kulturentwicklung statt singulärer Kulturereignisse. Der Kulturbetrieb wird sich nach Corona vermutlich weiter räumlich begrenzter organisieren. Mit einer stärkeren Betonung persönlicher Bindungen, wächst auch das Vertrauen darauf, was vor Ort entsteht.

 

Denn sie wissen nicht, was wir tun

Neben der Frage nach dem wie weiter sollten wir uns auch ehrlich nach dem warum fragen. Warum wird Kunst und Kultur von so vielen als „Freizeitbeschäftigung“ gesehen anstatt als unhinterfragte Daseinsvorsorge? Liegt es an unserer Kommunikation oder daran, dass wir das zweite aktuell (noch) nicht einlösen?  Die aktuelle Krise hat auf jeden Fall gezeigt, dass es zu wenige Verständigungsebenen gibt. Unter Künstler:innen, zwischen Künstler:innen und Veranstalter:innen, aber vor allem zwischen der Kulturszene und der Politik und der gesamten Öffentlichkeit. Die öffentlichen Diskussionen um Relevanz und Nutzen von Kultur haben gezeigt, wie groß die Distanz zwischen Kulturszene, Politik und Gesellschaft in manchen Bereichen ist. Dabei artikuliert sich ein enormes kommunikatives Moment im Schaffen von Kunst, im schöpferischen Handeln. Kunst ist ein kultureller Impuls, der ein Angebot sozialer Kommunikation auslösen kann. In Zeiten von wachsenden gesellschaftlichen Bruchlinien schafft Kunst wichtige Räume für Begegnung und Verständigung und stärkt das gemeinschaftliche Zusammenleben.

Lange Zeit gab es kein Bedürfnis, sich mit der tatsächlichen Nutzung der öffentlich geförderten Angebote zu beschäftigen. Denn die klassische bürgerliche Hochkultur war Kernbestandteil einer deutschen Identität, die selten hinterfragt wurde. Das hat sich mit der Pandemie nun wohl größtenteils geändert. Zumindest verliert für einen immer größeren Teil der Gesellschaft die klassische Hochkultur ihre Relevanz. Eine vielfältiger werdende Gesellschaft bringt eben auch unterschiedliche Rezeptionsgewohnheiten und kulturelle Vorlieben hervor. Die individuelle Relevanz ist jedoch entscheidend dafür, ob eine soziale Relevanz überhaupt möglich wird. Und nur, wenn Kulturarbeit relevant ist, kann sie wirken. Doch wie lässt sich das evaluieren? Worin zeigt sich überhaupt ihre Wirkung?

Kunst und Kultur wirken in komplexer Weise: Sie vermitteln Erkenntnisse, Erfahrungen, Haltungen, die nicht zwangsläufig in ein Werk oder einer Aufführung münden müssen. Der künstlerische Prozess ist hier oft genauso wichtig wie das Ergebnis, denn kultureller Kreativität schafft gesellschaftliche Dynamik. Doch wie lassen sich die neu entstandenen Netzwerke, kreativen Ideen und erweiterten Handlungshorizonte erfassen und einem politischen System vermitteln, das nach betriebswirtschaftlicher Logik funktioniert? Wie kann verhindert werden, dass künstlerische und kulturelle Arbeit auf messbare Kategorien, Kennzahlen und Indikatoren reduziert wird?

Anders als bei der institutionellen öffentlichen Förderung, werden vor allem zeitlich begrenzte kulturelle Projekte ebenso wie Mittel für die freie Szene bereits evaluiert. Dabei kommt jedoch hauptsächlich die summative Evaluation zum Einsatz, also die Bewertung nach Abschluss eines Projekts. Dabei werden Zwischenergebnisse und Arbeitsprozesse kaum näher analysiert, der Fokus wird auf quantitativ messbare Indikatoren wie Besucherzahlen, Eigen-Erwirtschaftungsquoten, Veranstaltungszahlen, Anzahl der Medienberichte gesetzt. Neue Impact-fokussierte Evaluationsinstrumente, die auch kunstimmanente, edukative und soziale Faktoren berücksichtigen, könnten die Position von Kunst und Kultur nachhaltig stärken. Nicht zum Zweck der Selbstlegitimation, sondern um daraus Orientierung für zukünftige Entscheidungen und Lernprozesse zu generieren. Je mehr wir selbst wissen, was wir tun, warum und für wen wir das tun, desto besser können wir es auch kommunizieren. Vielleicht fragt uns dann auch niemand mehr, warum es uns braucht.

Je mehr wir selbst wissen, was wir tun, warum und für wen wir das tun, desto besser können wir es auch kommunizieren. Vielleicht fragt uns dann auch niemand mehr, warum es uns braucht.

 

Hinterlassene Spuren

Im Jahr 1953 bat der junge Robert Rauschenberg den bereits berühmten Star der abstrakten Expressionisten, Willem de Kooning, um eine Zeichnung, die er ausradieren könnte. Nach einiger Überlegung gab ihm de Kooning ein Werk, das er jedoch als unauslöschlich bezeichnete. Wenige Wochen später erschien Rauschenberg mit dem Beweis des Gegenteils, seinem "Erased de Kooning Drawing". Von der ursprünglichen Zeichnung blieben nur einzelne Spuren übrig, dafür entstand eine Art Kunst aus Kunst. Kunst, die mit sich selbst spielt. Es war ein performativer Akt, der zu einem neuen konzeptionellen Werk führte. 

Rauschenbergs erstes großes, bis heute kontroverses Werk wäre fast nicht zustande gekommen – aus Angst. Heute hängt es, unschätzbar wertvoll, im Museum of Modern Art von San Francisco. Die ausradierte de Kooning Zeichnung ist ikonisch, weil sie für eine Ära steht, in der etwas scheinbar Negatives tatsächlich positive Auswirkungen haben konnte. Der Verlust des (Aus)radierens zur Kunstkreation wurde. Auch der momentane Stillstand birgt zunächst die Gefahr, dass fast nichts mehr übrig bleibt. Doch wenn wir es schaffen, die Situation selbst als kreativen Gestaltungsakt zu begreifen, entsteht – ähnlich wie bei Rauschenberg – vielleicht etwas völlig Neues, das nachhaltige Spuren hinterlässt. 

 

Text: Julian Rieken