Nähe und Distanz: Die Mobilisierung der Fantasie

Welche neuen Perspektiven entstehen in Zeiten der Einschränkung, welche neuen Fragen und Antworten eröffnen sich? Was ist das Politische in der Kunst? Wie schafft man Identifikationsmomente in der Neuen Musik? Wie gehen wir mit Distanz und Nähe insbesondere in der digitalen Kunstproduktion um? Ein Interview mit den Komponist:innen Irini Amargianaki und Johannes Boris Borowski im Rahmen des "Festival of New Music" im Pierre Boulez Saal. 

Pierre Boulez hat einmal gesagt, dass die einzigen interessanten Werke solche sind, die eine Veränderung des Blickwinkels zulassen. Wie hat sich Euer Blickwinkel in den letzten Monaten geändert? Welche neuen Fragen und Antworten sind hinzugekommen?

Irini Amargianaki: Die neue – teils erzwungene – Auseinandersetzung mit digitalen Formaten hat unsere Perspektive sehr verändert in den letzten Monaten. Bislang sind wir immer vom analogen Werk ausgegangen, doch wie verändert sich der künstlerische Prozess, wenn die Aufnahme vor der Aufführung kommt? 

Johannes Boris Borowski: An der Grunddisposition, dass ich weiterhin Musik machen und komponieren möchte, hat sich nichts verändert. Was in den letzten Monaten jedoch sehr schwierig war und mir immer bewusster wurde, ist, dass Komponieren eigentlich immer aus einem sozialen Prozess heraus entsteht. Das ist der Kontakt mit anderen Menschen, das Treffen mit Kolleg:innen auf Festivals, die Diskussion der eigenen Arbeit, die Hinterfragung der eigenen Arbeit – all das was wir eigentlich ständig tun. Wenn dieser Prozess beschnitten wird oder einfach aus Angst nicht mehr stattfindet, dann gibt es auch nicht mehr die Reaktionsebenen, die wir als Komponist:innen brauchen. Wir komponieren ja nicht in den leeren Raum hinein, sondern wir reagieren auf etwas. 

Siehst Du eine Chance darin, dass durch die Digitalisierung zusätzliche Reaktionsebenen entstehen können? 

Borowski: Die Chance kann man auch in diesem Projekt sehen. Zunächst denke ich, dass das Konzert mit Livepublikum nicht ersetzbar ist, aber auf jeden Fall ergänzbar. Es ist einfach eine andere, zusätzliche Konzertform. Wir können aber glaube ich durch Gespräche, Moderation, Einbindung von Publikumsfragen andere und weitere Menschen erreichen, die vielleicht normalerweise nicht in die Konzerte kommen. Das ist etwas sehr Positives und sollte auch nach Corona unbedingt weiterverfolgt werden. 

Irini, hast Du anders komponiert, weil Du wusstest, dass Dein Werk digital aufgeführt wird?

Amargianaki: Der Saal war meine Inspiration, nicht die digitale Aufführung. Während der Aufnahme stellt der Tonmeister eine wichtige Frage: Soll die Aufnahme naturalistisch sein oder eher in die Richtung Illusion gehen? Natürlich ist eine Aufnahme immer eine Illusion, sie lässt sich aber bewusst und gezielt gestalten. Das war eine schöne und neue Erfahrung für mich. 

Schaut Ihr Euch selbst Livestream-Konzerte an? Was sind die Momente, wo Ihr hängen bleibt und weiterschaut?

Amargianaki: Natürlich, es sind, denke ich, die gleichen Faktoren die auch die Qualität eines Livekonzertes bestimmen. Wenn ich merke, da passiert musikalisch etwas, das mich interessiert, dann bleibe ich da und höre weiter zu. Die Tonqualität und Bildqualität spielen aber auch eine große Rolle, der Rhythmus des Bildes beeinflusst auch die Wahrnehmung der Musik. Alles muss durchgedacht werden, damit das Konzert auch digital gelingt. 

Borowski: Was mich bei diesem Projekt fasziniert hat, war das Serienhafte. Wenn man einmal eingestiegen ist und Gefallen an der Form gefunden hat, ist man drangeblieben. Etwas verkürzt und über mehre Folgen gestreckt, könnte so etwas auch eine gute Netflix oder Amazonserie werden. Der Blick hinter die Kulissen, die persönlichen Gespräche könnten die Ängste vor Neuen Musik nehmen und vielleicht sogar neue Menschen dafür begeistern. 

 

Musik ist ein ständiges Schwanken zwischen aktivem Zuhören und immersiver Sogkraft. 

Johannes Boris Borowski

Das Thema des Livestream-Festivals war Nähe und Distanz. In der digitalen Übertragung gibt es ja per se schon eine große Distanz zwischen Künstler:innen und Publikum. Wie seid Ihr damit umgegangen? 

Amargianaki: Die Gespräche zwischen den Werken hat diese Intimität doch ermöglicht bzw. ergänzt. Die Aufnahmen alleine hätten glaube ich nicht die notwendige Wärme erzeugen können. 

Borowski: Im Prinzip ist diese Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz immer vorhanden. Wie funktioniert Nähe, wie baut man Nähe in einem Musikstück auf? Das funktioniert teilweise über Identifikation mit der Musik, mit den Musiker:innen, vielleicht aber auch durch das Gefordertwerden. Also in dem Maße wie ich mich anstrengen muss, etwas zu verstehen, bin ich auch selbst involviert. Es braucht Momente, in denen ich als Zuhörer:in gefordert bin, andere, die mich passiv erleben lassen. Musik ist ein ständiges Schwanken zwischen aktivem Zuhören und immersiver Sogkraft. 

Der Neuen Musik wird ja oft vorgeworfen, dass sie diese Identifikationsmomente für viele nicht bietet, da sie oftmals einen strukturellen oder intellektuellen Zugang voraussetzt. Wie schaffst Du emotionale Anknüpfungspunkte zwischen Deiner Musik und dem Publikum?

Borowski: Den Vorwurf, dass die Neue Musik so ganz außerhalb der Welt steht, glaube ich nicht. Eine gewisse Barriere ist sicherlich das Fehlen der Tonalität, doch die ist nicht erst mit der Neuen Musik entstanden. Man stellt sich als Komponist immer ein imaginäres Publikum vor, beim Komponieren ist man zunächst auch immer selbst Publikum. Ich sehe es als die Aufgabe des Komponisten an, ein Publikum durch die Musik mitzunehmen. Doch unsere Macht ist auch extrem beschränkt, da wir meistens nicht bestimmen können, in welchem Kontext unsere Werke gespielt werden. Dabei spielt die Konzertform, die Atmosphäre, das Licht, der Raum, die Musiker:innen eine genau so große Rolle wie die Musik selbst. 

 

Musik kann bewusst politisch sein oder nicht. Diese Mobilisierung der Fantasie ist eine politische Aktion an sich und öffnet andere Perspektiven. 

Irini Amargianaki

In der Kreativitätsforschung geht man davon aus, dass Einschränkung auch Kreativität freisetzen kann. Wie seid Ihr mit den Einschränkungen der letzten Monate umgegangen?

Amargianaki: Die Probleme und aktuelle Themen des Lebens sind immer Inspirationsquellen für das künstlerische Schaffen. Es ist eine komplett neue Situation, die wir gerade erleben und durchleben. Ich habe mir sehr viele persönliche Fragen gestellt, Antworten auf die Probleme gesucht. Gleichzeitig habe ich auch gemerkt, dass wir trotz Krise in Europa immer noch sehr privilegiert sind und wir dadurch auch eine immense Verantwortung tragen. Es war eine sehr emotionale Zeit, daher ist das Stück auch sehr emotional geworden. Es ist meine musikalische Antwort auf die Fragen in mir und dort draußen. Musik bietet eine tolle Möglichkeit, alle diese Gefühle und Gedanken zum Ausdruck zu bringen. 

Es wurde in den letzten Monaten sehr viel über die Systemrelevanz der Kunst diskutiert. Wo siehst Du die Rolle der Kunst, der Musik? 

Borowski: Ich finde den Begriff etwas seltsam bzw. verstehe ich ihn nicht ganz. Musik und Komponieren hat  auch immer einen politischen Aspekt finde ich, auch wenn man es nicht direkt aus der Musik hört. Wir können nicht eine konkrete politische Frage beantworten oder Lösung anbieten, dann wäre es keine Kunst mehr. Musik muss immer vieldeutig bleiben und über eine Ausgangsfrage hinausgehen. Sie kann aber ausgelöst werden durch gesellschaftliche Spannungen. Das alleine reicht schon, um einen politischen Anspruch zu haben.

Kann Kunst denn überhaupt nicht politisch sein?

Borowski: Kunst ist immer politisch und gesellschaftskritisch oder sie ist es nie. Sie kann es mehr oder weniger sein. Sie wird als mehr politisch wahrgenommen, wenn eine Ebene von Außen kommt, die dann aber teilweise auch aufoktroyiert wird. Das sind dann Stücke, die ganz schnell wieder an Aktualität verlieren. Interessant wird es, wenn wir das Politische in den Stücken entdecken oder das Stück selbst politisch gestalten. Krisen haben noch nie dazu geführt, dass es weniger Kunst gibt – sie sind vielmehr Katalysator für Neues. 

Amargianaki: Musik kann bewusst politisch sein oder nicht. Diese Mobilisierung der Fantasie ist eine politische Aktion an sich und öffnet andere Perspektiven. 

Nur zwei der insgesamt zehn Auftragswerke des "Festival of New Music" stammen von Komponistinnen. Ist das für Euch ein Thema? 

Amargianaki: Die Tatsache, dass mir diese Frage überhaupt gestellt wird, ist Bestätigung dafür, dass wir immer noch in einer von Männern dominierten Welt arbeiten. Die Statistik spricht leider für sich. Diese Frage stellt man einem Komponisten nie. Natürlich spielt das eine Rolle in meinem Leben, als Frau betrachte ich die Welt feministisch. Es kann nicht anders sein. 

Diversität ist nicht nur eine Frage der Gender-Parität, sondern auch eine Frage der Repräsentation insgesamt. Werden andere Perspektiven gezeigt, andere Geschichten erzählt und wer erzählt diese Geschichten auf und hinter der Bühne?  

Amargianaki: Die Chance andere Stimmen zu hören finde ich sehr wichtig. Ich hoffe, dass wir uns in 5 oder 10 Jahren diese Fragen nicht mehr stellen müssen. 

Spannend wird es, wenn Kunst aus einer Notwendigkeit und nicht aus der Routine heraus entsteht. 

Irini Amargianaki
 

Wenn Frau Merkel mal nicht nach Bayreuth fährt, sondern in ein Konzert der Neuen Musik geht – nicht in ein Hochglanzprojekt, sondern in eins, wo die junge Szene engagiert ist – das wäre ein wichtiges Zeichen.

Johannes Boris Borowski

Wenn Ihr einen Wunsch an die Kulturstaatsministerin, Frau Grütters, richten könnte, welcher wäre das? 

Borowski:  Ich würde die Ausbildung an den Musikhochschulen ändern. Ich stelle mir eher eine Art Akademie vor, wo es einen größeren Austausch gibt. Wo man durch das Tun, durch das Ausprobieren schneller in Kontakt miteinander kommt. Es sollte nicht darum gehen, Leistungspunkte zu sammeln. Natürlich steht aber momentan der existenzielle Überlebenskampf an erster Stelle, die Gelder müssen gerecht verteilt werden. Die Finanzierung sollte dabei aber nicht immer von einem kurzfristigen Erfolg abhängig gemacht werden, sondern auch langfristige Konzepte honorieren, die vielleicht auch mal nicht aufgehen. Wir brauchen mehr Mittel, um mehr zu experimentieren und Dinge langfristig aufbauen zu können. 

Amargianaki: Die Einstellung, dass die sogenannte Neue Musik als etwas Elitäres betrachtet wird, ist auch ein Problem der Ausbildung. Der Dialog zwischen den Komponist:innen und Musiker:innen ist immer noch sehr schwierig. Die Offenheit, Neue Musik zu spielen wird oft nicht vermittelt in der Ausbildung. Ich habe die Nase voll von der Frage, warum es Neue Musik braucht. Warum nicht? 

Borowski: Die Politik könnte auch ein Zeichen setzen, in dem sie solche Veranstaltungen besucht. Wenn Frau Merkel mal nicht nach Bayreuth fährt, sondern in ein Konzert der Neuen Musik geht – nicht in ein Hochglanzprojekt, sondern in eins, wo die junge Szene engagiert ist – das wäre ein wichtiges Zeichen. 

Wohin entwickelt sich die Neue Musik? Was ist das Neue in der Neuen Musik?

Borowski: Es ist natürlich immer schwer in die Zukunft zu blicken, ich sehe aber, dass Musiker:innen mehr Verantwortung übernehmen, selbst Programme gestalten, teilweise selbst die Konzertdramaturgie bestimmen und in die Werke eingreifen wollen. Das hat viel verändert und wird wohl weiterhin viel verändern. Auch die Art der Konzertform, also wie ein Konzert präsentiert wird, wird sich verändern. Funktionierende Experimente aus der Neuen Musik werden hoffentlich auch in die traditionelle Konzertform einfließen. Auch die Kooperationen mit anderen Bereichen und Künsten wird hoffentlich an Bedeutung gewinnen. 

Amargianaki: Auf der einen Seite denken wir immer: Es ist doch schon alles gemacht. Aber das hat sich immer als falsch erwiesen, weil es immer neue Ideen, immer Innovation geben wird. Das Wichtigste ist, denke ich, dass jeder Kunstschaffende einen eigenen persönlichen Weg finden und einschlagen kann. Spannend wird es, wenn Kunst aus einer Notwendigkeit und nicht aus der Routine heraus entsteht. 

 

Interview: Julian Rieken