Herausforderungen und Handlungsfelder

Die aktuelle Situation ist eine Art Zäsur, täuscht aber darüber hinweg, dass viele der jetzigen Fragen auf strukturelle und grundlegende Probleme hinweisen, die in der Kulturszene schon lange vor Corona existieren. In Anbetracht dieser grundlegenden Veränderungen stellen sich viele Fragen: Wo liegen die zukünftigen Schwerpunkte, wo die Anforderungen an die Musiker:innen und das Publikum von morgen, wo die Herausforderungen und Handlungsfelder der Zukunft?

Corona

Die Pandemie hat auch die Kulturszene hart getroffen, viele Künstler:innen und Kulturschaffende stehen von dem Nichts. Denn: Ohne Konzerte kein Publikum, ohne Publikum keine Einnahmen und ohne Einnahmen keine Zukunft. Die aktuelle Krise offenbart die systemischen Schwachstellen unseres Kultursystems und die Fragilität unserer Gesellschaft.

Das griechische Wort für Krise bedeutet jedoch auch Wandlung. Kulturschaffende dürfen nicht durch Funkstille den Mangel unterstreichen, vielmehr soll durch das künstlerische Schaffen von Neuem die Systemrelevanz von Kunst und Kultur immer wieder neu reflektiert und gezeigt werden. Somit eröffnet die aktuelle Situation auch Chancen für Neues.

Wie kann es der Kunst gelingen, die Situation, den Not- und Leerstand in einen Echoraum zu geben und produktiv nutzbar machen? Damit Musik auch weiterhin für das gesellschaftliche Zusammenleben von elementarer Bedeutung sein wird, bedarf es einer Erneuerung. Innovative Hörangebote, neue dramaturgisch-kuratierte Programme sowie kreative und partizipative Vermittlungsformen sind Grundlage für die Bindung bestehender und Erreichen neuer Zielgruppen. Wir stehen alle vor schwierigen Fragen. Doch antworten – wer könnte das besser als die Kunst?

 

Digitalisierung

Die Digitalisierung und die daraus resultierende Mediengesellschaft bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, jenseits des Konzertsaals präsent zu sein. Sie ermöglicht neue Wege der Produktion und damit neue Arten des Publikumkontakts. Die momentane Krise kann als Chance genutzt werden, neu über Aufführungspraxen und Rezeption von Musik über das reine Streaming hinaus zu denken. Digitale Kunstformen sollen nicht Live-Konzerte ersetzen, sondern etwas wirklich Neues oder Eigenständiges schaffen. Ohne Gemeinschaftserlebnis und Raumklang, aber dafür mit umso mehr experimenteller Bewegungsfreiheit. Besondere Konzerterlebnisse zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass die Musiker:innen ‘spielen’ statt passiv zu rezipieren. Wie können wir ein solch reiches musikalisches Erlebnis für das Publikum zugänglich machen, solange es schwierig ist, Konzerte zu besuchen?

 

Repräsentation

Repräsentieren im ästhetischen Sinne bedeutet darstellen, im politischen für jemanden zu sprechen. Perspektiven aus anderen Musiktraditionen werden kaum rezipiert, diskutiert oder repräsentiert. Wie können wir Fragen von Dekolonisierung, Gender und Diversität im westlichen Musikdiskurs einschreiben und unsere eigene Haltung als Musikakteure prüfen?

Musik ist immer eine zeitgenössische Angelegenheit: Sie passiert hier und jetzt. Die oftmals zu beobachtende Selbstreferentialität des (klassischen) Musikbetriebs verhindert jedoch aktuelle Anknüpfungspunkte und Identifikation. Das Fundament einer diversitätsorientierten und deutungsfreien Perspektive bildet eine ebensolche Haltung, die zu neuen Handlungen führt. Diese Veränderung muss aus der Struktur heraus ermöglicht werden. Die Vielfalt unserer Gesellschaft muss sich daher zukünftig auch in der Heterogenität von Programmangeboten, von Personen (auf und hinter der Bühne), vom Publikum, von Orten, etc. widerspiegeln. Somit kann die Klassik in einen neuen Wirkungs- und Sinnzusammenhang gestellt und neue zeitgemäße Anschlussmöglichkeiten gerade für ein neues Publikum geschaffen werden.

 

Relevanz

Das klassische Konzert hat für viele Menschen keine Relevanz mehr, weil es ein Konstrukt ist, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und sich seitdem kaum weiterentwickelt hat. Die Gesellschaft hat sich aber weiterentwickelt. 50% der Bundesbürger:innen nutzen keine öffentlich geförderten Kulturangebote und fühlen sich nicht angesprochen. Die individuelle Relevanz ist jedoch entscheidend dafür, ob eine soziale Relevanz überhaupt möglich wird. 

Nach wie vor sind die Zugangsbarrieren für Nicht-Nutzer/Nicht-Besucher hoch. Dabei wird die Annahme, dass Klassische Musik langweilig, anstrengend und nicht zu verstehen ist, weil man nicht über die nötige Bildung verfügt, oftmals als Grund für das Fernbleiben angegeben. Auch die Angst, dass die Musik nicht zum eigenen Lebensstil passt (keiner der Freunde und Bekannten nutzt Kulturangebote) und man nicht über die richtigen Umgangsformen oder kulturellen Codes im Zusammenhang mit Kultur verfügt, ist als ernstzunehmende Barriere miteinzubeziehen.

Der Ausdifferenzierung der Lebensstile, der Verschiedenheit der Bildungshintergründe, der Erwartung und der kulturellen Geprägtheit der Besucher:innen und vor allem der Noch-Nicht-Besucher:innen müssen ebenso vielseitige und vielschichtige Aufführungskonzepte gegenüberstehen.

Nähe

Konzerte sind ein unverzichtbarer Teil des menschlichen Zusammen- und Kulturlebens. Sie sind nicht nur musikalische, sondern stets auch soziale Ereignisse – denn erst durch die Anwesenheit eines Publikums wird die musikalische Darbietung zur lebendigen Zeitkunst. In unserer schnelllebigen Zeit ist ein Verlangen nach Kontemplation, nach Auszeit, nach einem gemeinschaftsstiftenden Resonanzraum zu beobachten, der in so einem Konzert stattfinden kann. Wie kann dieser Resonanzraum gestaltet werden? Wie kann Nähe zwischen Saal und Bühne, zwischen Künstler:innen und Zuhörer:innen erzeugt werden? Wie lässt sich berühren ohne zu berühren? Social distancing, but creative intimacy. Nähe als Grundlage von musikalischer Praxis verändert die klassische Gegenüberstellung von Saal und Bühne, von Künstler:in und Rezipient:in, von Autorität und Hörigkeit; er wandelt ihre zweidimensionale Bestimmbarkeit in eine multidimensionale Beziehungsfähigkeit.

 

Zeitgemäße Konzertkultur

In seiner Rolle als Interpret wird der Musiker oft als Unikat vermarktet, um weltweit in standardisierten Situationen seine Kunst darzubieten. Dies führt zu einer zunehmenden Homogenisierung klassischer Musikinterpretation. Der Trend zu genormten Konzertformen und Standard-programmen, die allenfalls durch bestimmte Jubiläumsanlässe (Beethoven....!) durchbrochen werden führt zu einer globalen Vereinheitlichung der Formen des Musiklebens. Auch die ‚Heiligsprechung“ des Werkes im 19. Jahrhunderts im Zuge der philosophischen Ästhetik hat zu einer zunehmenden Normierung und Ritualisierung unserer Konzertkultur geführt. Das Kernprodukt jedes Konzertbetriebes, das Konzert und die Musik selbst, bleibt meist unangetastet und unhinterfragt.

Welche Transformationen sind also notwendig, um das Konzert als kulturelle Praxis und künstlerische Kunstform ins 21. Jahrhundert zu übertragen? Es geht nicht um »neue Formen« versus »traditionelle Konzerte«, sondern um möglichst vielfältige Angebote für ein diverser werdendes Publikum. Es geht dabei nicht um eine popularisierende „Eventisierung“ des Konzerts, sondern um eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Konzerts als Präsentationsform. 

Die Interdependenz von Institution, Werk, Aufführungskontext und Rezipient muss sich auch in die konzert-dramaturgischen Überlegungen mit einbeziehen, um das Konzert in ein Entfaltung atmendes Ambiente zu stellen. Das Verhältnis von Erkenntnis und Erleben beim Hörerlebnis, das Zusammenspiel von Werk und Raum, das Verhältnis von Musik und Alltag, die sinnstiftende Inszenierung von Musik und Anlass sind neben der Auswahl der Interpreten und des Programms gleichwertige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Konzerterlebnis.

Ausbildung

Die traditionellen Karrierewege für Berufsmusiker:innen sind immer schwieriger geworden. Dennoch gibt es Künstler:innen, die sich erfolgreich neue Nischen und Wege schaffen und damit der Kunstform zu ihrer Entwicklung verhelfen. Diese Musiker:innen des 21. Jahrhunderts sind nicht nur talentiert, sondern auch anpassungsfähig, kreativ, unternehmerisch und versiert im Umgang mit neuen Technologien. Ziel muss es sein, junge Musikbegeisterte zu einem neuen Musiktypus auszubilden, der breitflächig in verschiedenen interdisziplinären Bereichen ausgebildet wird. Darunter Aspekte wie die Vermittlung von Musik, das Kulturunternehmertum, die Kuration von Konzerten und das Gewinnen von Publikum. Somit sollen Musiker:innen ermutigt und befähigt werden, ihre eigenen beruflichen und künstlerischen Erfolgswege zu beschreiten.

 

Klimawandel

Die Klassikbranche ist ein internationaler Markt, es wird getourt, geflogen, eingeflogen. Die derzeitige Pandemie kann als Chance genutzt werden, um den Markt in Hinblick auf den Klimawandel neu zu denken. Wie kann die Branche nachhaltiger werden ohne ihre CO2-Neutralität bloß zu erkaufen? Wie können mathematisch beschreibbare globale Vorgänge des Klimawandels mit den Mitteln der Musik konkret sinnlich erfahrbar gemacht werden? Welche Erzählweisen gibt es, die solche Prozesse für das Klassische Konzert aufschließen?

 

Text: Julian Rieken