Das Gräuliche Festmahl

Offenbachs Faschingsburleske von 1857 entwirft ein absurdes Zerrbild einer „unzivilisierten“ und „zivilisierten“ Welt, die in unhinterfragter Selbstverliebtheit den Blick für ihre Abgründe verliert. tutti d*amore versetzen den Schauplatz ihres gräulichen Festmahls in die gegenwärtige Club-Szene und inszenieren das Drama um deren Ausverkauf.

Rettet die Insel! Das Inselreich der Groß-Luluer ist in Gefahr. Jeden Tag könnte die noch unentdeckte Insel von den Zivilisationsverbreitern eingenommen werden. Häuptling Abendwind sieht sich zum Handeln gezwungen und lädt den benachbarten Inselbeherrscher Häuptling Biberhahn zum großen Festmahl ein. Auf dem Spiel des delikaten Zusammentreffens der Häuptlinge steht die politische Allianz und auf der Speisekarte Menschenfleisch. Jacques Offenbachs Faschingsburleske von 1857 entwirft ein absurdes Zerrbild einer „unzivilisierten“ und „zivilisierten“ Welt, die in unhinterfragter Selbstverliebtheit den Blick für ihre Abgründe verliert. In der deutschsprachigen Fassung entwickelt Johann Nestroy den Stoff als Satire auf die Wiener Gesellschaft des 19. Jahrhunderts weiter, die in ihrer Abstrusität nicht an Aktualität verliert. In der Fassung des Berliner Musiktheaterkollektivs tutti d*amore sind die noch unentdeckten Inseln die alternativen kulturellen Freiräume im Berlin der Gegenwart. Durch Gentrifikation und Verdrängung sind diese utopischen Orte in ihrer Existenz bedroht. Die Lage in der Bundeshauptstadt wird immer angespannter, so dass sich nun die Politik mit dem Thema befasst und sogar überlegt, Nachtclubs steuerlich mit Opernhäusern gleichzusetzen. tutti d*amores Beitrag zu dem Thema ist der Versuch mit dieser Produktion einen alternativen Zugang zu diesem brisanten Thema, aber auch zur totgeglaubten Kunstform Oper*ette zu ermöglichen. Nach der ausverkauften Premiere im Sisyphos Berlin beim PerformingArtsFestival 2019 realisierte tutti d*amore mehrere Wiederaufnahmen an verschiedenen „Brennpunkten" in Berlin, aber auch anderen Großstädten. Diese Orte werden durch die Verbindung Mit dem Genre transformiert und künstlerisch aufgeladen, Oper*ette hingegen zugänglich und populär.

… Die Aufführung war grandios, mit Salonorchester und viel studentischem Publikum, das Offenbachs Crazyness goutierte. Ein Operettenfest! Mach’s noch einmal, Jacques!

BZ-Berlin, 12.03.2020

Besetzung

Ludwig Obst TENOR (Abendwind)

Caroline Schnitzer MEZZOSOPRAN (Atala)

Ferdinand Keller TENOR (Artur)

Ekaterina Bazhanova MEZZOSOPRAN (Biberhahn)

Klara Günther SCHAUSPIEL (Koch)

Anna Weber REGIE

Helen Brecht TEXTFASSUNG

Lena Bohnet BÜHNE/KOSTÜM

Ana Edroso Stroebe DRAMATURGIE

Helen Brecht TEXTFASSUNG 

Yannis Hahnemann LICHT

Three Good Boys ELECTRONICS

Paul Heller MUSIKALISCHE EINSTUDIERUNG/KORREPETITION

ORCHESTER: 

Lorenz Blaumer VIOLINE

Frauke Farwick VIOLINE

Willy Chan FLÖTE

Yuriy Nepomnyashchiy/Fanni Scheffler KLARINETTE 

Sebastian Di Salvatore, George Adje FAGOTT 

Josef Loibner AKKORDEON

Marta Coelho/Thomas Kolarczyk KONTRABASS 

Bennon Gössel/Jonathan Böttcher  SCHLAGZEUG

Bisherige und kommende Aufführungen und Aufführungsorte 

BERLIN, SISYPHOS CLUB, PERFORMING ARTS FESTIVAL BERLIN (PAF), 29.05.2019

MÜNCHEN, HEPPEL & HETTICH, 26.06./27.06.2019

LÄRZ, FUSION FESTIVAL, 30.06.2019 

GARBICZ (POLEN), GARBICZ FESTIVAL, 03.08.2019

LÄRZ, AT.TENSION FESTIVAL, 05.09./06.09.2019 

BERLIN, PETERSBURG ART SPACE, 11.03./12.03.2020

Credits

Bezirk Berlin Lichtenberg, Bezirk München-Schwabing-Freimann, Performing Arts Festival

 

Nicht nur Gesellschaftskritik ist typisch Offenbach, auch das Durcheinanderwirbeln von Geschlechterrollen, die Hosenrolle, Travestie, Parodie, schwarzhumorige Ironie gehören dazu und werden hier auf eine frisch-frech-schamlose Art & Weise dem Theatervolk dargeboten. 

Heiko Schorn

Was für eine komische Zeit. Nein, sie ist nicht komisch im Sinne von lustig, sie ist merkwürdig, ungewohnt, fremdartig. Mein letzter Musiktheaterabend liegt auf den Tag genau drei Wochen zurück. Zu diesem Zeitpunkt war der populäre Bizet im großen, subventionierten Haus längst abgesagt (die Carmen vor leeren Staatsopernrängen ist derzeit in der RBB-Mediathek bzw. auf Youtube zu bestaunen), doch ich hatte das große Glück, einen Raritäten-Offenbach im privat finanzierten, intimen Kreis erleben zu dürfen, was damals noch gestattet war. In der sog. Europacity von Berlin ist abends total tote Hose, zumindest in kultureller Hinsicht. Einzig der Artspace Petersburg - laut Kulturamt Mitte ein “Geheimtipp” - hält dort künstlerisch die Stellung, was bitt’schön auch so bleiben soll. Ich betrete einen kleinen Saal mit offener Küche, gegenüber eine Bühne, vor welcher wiederum bunt gewürfeltes Stuhlwerk steht, auch der eine oder andere Polstersessel. Mein alkoholisches Kaltgetränk bekomme ich am Küchentresen gereicht - von einem englisch sprechenden Barmann. Und ich gebe ehrlich zu Protokoll, den Altersdurchschnitt des anwesenden Publikums diesmal nicht zu drücken. Nie und nimmer würde man hier die Aufführung einer 150 Jahre alten Opérette-bouffe vermuten - und doch hebt sich der Vorhang für Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl, eine Faschingsburleske nach Jacques Offenbach. Das verwegene Projekt wurde vom Berliner Musiktheaterkollektiv tutti d*amore auf die Beine gestellt, das aus AbsolventInnen der HfM Hanns Eisler besteht und von sich selbst behauptet “einen alternativen und vorurteilsfreien Zugang zur Kunstform Oper*ette zu ermöglichen”. Das Verblüffende am Ergebnis ist nicht, dass die Truppe ihr Versprechen auch eingelöst hat, sondern wie dicht sie dabei an Offenbach blieb. Das fängt schon beim bestens gelaunten, keck aufspielenden Salonorchester an, denn in Jacques’ erstem Theater hatten auch nur eine handvoll Musiker im Graben Platz. Dennoch entfalten die Offenbach’schen Melodien vollen Ohrwurmcharakter und funkeln, federleicht. Dazu hat Anna Weber eine szenische Schlachteplatte mit viel Situationskomik angerichtet, in welcher der gelackte Immobilieninvestor den Einheimischen vermeintlich zum Fraß vorgeworfen wird. Am Ende stellt sich heraus, dass stattdessen der Berliner Bär den Löffel abgeben musste. Doch nicht nur Gesellschaftskritik ist typisch Offenbach, auch das Durcheinanderwirbeln von Geschlechterrollen, die Hosenrolle, Travestie, Parodie, schwarzhumorige Ironie gehören dazu und werden hier auf eine frisch-frech-schamlose Art & Weise dem Theatervolk dargeboten. 

Auszug aus Kultur-Extra Das Online-Magazin, 02. April 2020, Autor Heiko Schorn

 

Nachgefragt

Welche besonderen gestalterischen Mittel wurden eingesetzt und warum? Welches dramaturgische/szenische Konzept wurde verfolgt?

In der Fassung des Berliner Musiktheaterkollektivs tutti d*amore sind die noch unentdeckten Inseln die alternativen kulturellen Freiräume im Berlin der Gegenwart. Durch Gentrifizierung und Verdrängung sind diese utopischen Orte in ihrer Existenz bedroht. tutti d*amores Beitrag zu dem Thema ist der Versuch mit dieser Produktion einen alternativen Zugang zu diesem brisanten Thema, aber auch zur totgeglaubten Kunstform Oper*ette zu ermöglichen, in dem wir den Ort der Handlung in einen Berliner Technoclub verlegt haben.

Beschreibt den künstlerischen und kreativen Entstehungsprozess.

Tutti d*amore identifiziert sich stark mit den Operetten von Jacques Offenbach, da wir sie für politisch relevant halten und sie ebenso oft ein absurdes Zerrbild unserer Gesellschaft aufzeigen. Ein besonders gutes Beispiel sahen wir in der Faschingsburleske “Häuptling Abendwind oder das gräuliche Festmahl”.

Welche Erfahrungen in Bezug auf dieses Projekt könnt Ihr mit anderen teilen? Was war positiv, was war negativ? Was hat funktioniert, was nicht?

Wir haben “das gräuliche Festmahl” in Berlin produziert und sind danach den Sommer über auf Tour gegangen. Auch das ein oder andere Technofestival war dabei. Positiv: Du willst über deine rein künstlerischen Qualitäten hinaus wachsen? Dann ist eine vierwöchige Tour mit einem 20-köpfigen Ensemble auf fünf Techno Festivals genau das Richtige für dich! Negativ: Um Mitternacht neben dem Main Floor auftreten.

Welche Parameter haben Euch eingeschränkt, was die größte Herausforderung? Wie seid ihr damit umgegangen? 

Kaum finanzielle Förderung, und unsere Tätigkeiten neben der Kollektivarbeit, waren die beiden größten Herausforderungen. Was uns da gerettet hat? Zusammen mal 'nen Gläschen Champagner.

Was habt Ihr persönlich aus diesem Projekt gelernt?

…, dass doppelseitiges Klebeband für die Perücken selbst bei 38 Grad im Schatten nicht schmilzt.