Zur Kenntlichkeit entstellt

In großen Musikwerken geht es um viel, da erklingen die Höhen und Tiefen der Existenz selbst. Es ist allerdings im professionellen, gemütlichen Konzertbetrieb nicht einfach, dass es auch in einer Darbietung, in einem Konzert um viel geht – irgendwo zwischen Werk und Rezeption geht oft viel Brisanz verloren. Vielleicht müssen wir andere, radikale Aufführungsformen gerade der bekannten und geliebten Werke suchen, um sie wieder in ihrer Kraft und Heftigkeit zu erleben? Wir müssen sie vielleicht entstellen, damit sie wieder kenntlich werden?

Die Johannespassion von J.S. Bach für Tenor alleine, Cembalo, Orgel sowie Schlagzeug.

Die Johannespassion von Johann Sebastian Bach wird in dieser Produktion von PODIUM Esslingen zu einem intensiven und fesselnden Kammer(musik)spiel mit einem Sänger, Cembalo und Orgel sowie Schlagwerk verdichtet. Der isländische Tenor Benedikt Kristjánsson erzählt ausgehend vom Evangelisten die komplette Passion und nimmt verschiedene Rolle ein, singt dabei neben den ungekürzten Rezitativen auch ausgewählte Alt- und Sopranarien. Durch die Fokussierung des gesamten Narratives auf eine Person entsteht ein Sogwirkung, die das Publikum geradezu in die Leidensgeschichte Jesu hineinzieht. Die monumentale gesangliche und performative Aufgabe für den Sänger erzeugt eine Dringlichkeit und Heftigkeit, die die Musik umso mehr unterstreicht.

Der gesamte Orchesterpart wird von der Cembalistin und Organistin Elina Albach und dem Schlagzeuger Philipp Lamprecht nachgezeichnet. Sie haben hierfür eine originelle, farbenreiche Bearbeitung für großes Schlagwerk-Setup und Cembalo sowie Orgel eingerichtet, die auch nicht vor drastischen Klängen – sei durch eine Karfreitagsratsche, präpariertem Marimbaphon und großen Trommeln – zurückschreckt. Es entsteht eine gänzlich neue, zeitgenössische, und doch dem Original gegenüber sehr respektvolle Version, die die ganze drastische Dramatik der Passion auf einen kammermusikalischen Punkt bringt. Dabei nimmt das Publikum eine aktive Rolle ein: wie zu Zeiten Johann Sebastian Bachs singen die Gäste die Choräle mit den Musikern mit. Das Konzertformat schafft somit ein Gemeinschaftserlebnis, das weit jenseits des religiös-lithurgischen Anlasses das Publikum zu einer „Gemeinde“ vereint.

 

Autor: Steven Walter, https://www.podium-esslingen.de/