Jedes Zeitalter verlangt seine eigene Form

FRIEDERIKE HOLM: Warum braucht es betterconcerts.org?

JULIAN RIEKEN: Wir wollen mit betterconcerts.org erst einmal die ganze Bandbreite zeigen, was eigentlich alles möglich ist. Wir wollen auch aus diesem Schubladendenken raus, dass es Alte Musik und Neue Musik gibt. Uns geht es um Formate, um künstlerische Formen, die begeistern, die berühren, die das Kernprodukt Musik dem Publikum wieder sinnlich präsentieren. Die Plattform formuliert mit diesem Ansatz ein offenes Angebot, das Konzert neu zu denken, auf neuartige Weise über Konzerterlebnisse zu sprechen, entdeckungswürdige Präsentationsformate zu kreieren und Klassik in einen zeitgemäßen Kontext zu setzen.

HOLM: Was macht in eurer Definition ein Konzert »besser«? Welche Qualitätskriterien entwickeln sich aktuell?

RIEKEN: Das ist ein Ziel der Plattform, neue künstlerische Gestaltungsparameter zu definieren und Qualitätskriterien zu erweitern. In unserer Projektdatenbank kann beispielsweise gezielt nach Kriterien gesucht werden, die wir definiert haben: u.a. Setting, Raum, Kontext, Dramaturgie, Publikum, künstlerische Stilmittel und Schnittmengen zu anderen Künsten. Das Besser in betterconcerts meint intensiver, erlebnisnäher, bedeutsamer, mutiger, verspielter, kontroverser, sinnhaltiger und gesellschaftlich anschlussfähiger – all dies stets mit höchsten künstlerischen Qualitätsansprüchen. Besser meint ein anderes, tieferes Nachdenken über das eigene künstlerische Schaffen.

HOLM: Schaut Ihr auch, wie gut die Leute spielen?

RIEKEN: Die musikalische Qualität steht an vorderster Stelle, aber Qualität lässt sich verschieden bewerten. Es gibt nicht nur technische, sondern auch kontextuelle, ästhetische und dramaturgische Qualität. Der Technik- und Interpretationsbegriff wird um die kuratorischen und gestalterischen Fragen erweitert.

HOLM: Welche Kriterien gibt es für die Auswahl der Projekte, die auf der Plattform aufgenommen werden?

RIEKEN: Die auf betterconcerts.org gezeigten Projekte verhandeln angstfrei, experimentierfreudig und mit Toleranz für das Scheitern die Frage, was das Konzert als künstlerische und relevante Plattform heute bedeutet. Es geht nicht um »neue Formen« versus »traditionelle Konzerte«, sondern um möglichst vielfältige und lebendige Angebote. Wir stellen uns bei der Auswahl der Projekte die Fragen: Worum geht es in dieser Musik, was ist die »Mission« der Musiker:innen und was wollen sie erreichen? Wie soll dieses ästhetische und soziale Erlebnis stattfinden? Wie wird es beschrieben und gestaltet? Wie wird Nähe und Resonanz zwischen Bühne und Saal erzeugt? Das sind die Kriterien, die bislang angewendet werden, die, wie ich hoffe, aber durch die Diskussion kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Es geht nicht um »neue Formen« versus »traditionelle Konzerte«, sondern um möglichst vielfältige und lebendige Angebote.

HOLM: All diese Fragen zielen auf die Verbindung zwischen Bühne und Publikum ab – und die Relevanz des Konzerts in unserer Gesellschaft. Haben wir ein Relevanz-Problem?

RIEKEN: Für viele Menschen hat das klassische Konzert keine Relevanz mehr, weil es ein Konstrukt ist, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und sich seitdem kaum weiterentwickelt hat. Die Gesellschaft hat sich aber weiterentwickelt. 50% der deutschen Bevölkerung nutzen keine öffentlich geförderten Kulturangebote und fühlen sich nicht angesprochen. Insgesamt gehören lediglich ca. 8% zu den regelmäßigen Nutzern. Die individuelle Relevanz ist jedoch entscheidend dafür, ob eine soziale Relevanz überhaupt möglich wird.

Wir haben jedoch eine tolle Chance, auch mit einem klassischen Programm Menschen in das Konzert zu bringen, weil mit der Digitalisierung, mit dem schnelllebigen Zeitalter ein Verlangen nach Kontemplation, nach Auszeit, nach einem Resonanzraum entsteht, der in so einem Konzert stattfinden kann. Aber das heißt, dass wir diesen Raum auch gestalten und den veränderten Bedingungen anpassen und aktuelle Anknüpfungspunkte und Identifikationsmöglichkeiten gerade für ein neues Publikum schaffen müssen.

HOLM: Was wissen wir überhaupt über das Publikum?

RIEKEN: ‚Das’ Klassikpublikum in Deutschland ist eine schwierig zu erfassende Größe. Die demografische Entwicklung in Deutschland spiegelt sich auch in der Publikumszusammensetzung klassischer Konzerte wider. Eine Studie der Universität Düsseldorf legt sogar dar, dass das Opern- und Theaterpublikum dreimal so schnell altere wie der Durchschnitt der Bevölkerung.

Ich glaube, es gibt das eine Publikum nicht, sondern es gibt ganz viele Publika mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Es wird zu wenig zwischen verschiedenen Zielgruppen unterschieden, das Konzertpublikum eher als homogene Masse betrachtet. Die Vielfalt unserer Gesellschaft muss sich daher zukünftig auch in der Heterogenität von Programmangeboten, von Personen auf und hinter der Bühne, vom Publikum, von Orten, etc. widerspiegeln. Denn durch Veränderungen im Wertekanon hat sich sowohl der Kulturbegriff als auch das Publikumsverhalten verändert.

HOLM: Studien in den letzten Jahren belegen, dass die Anzahl von klassischen Konzerten gestiegen ist und dass diese auch ihr Publikum finden. Wie stehst du dazu?

RIEKEN: Ich sehe die Entwicklung des Publikums ein bisschen kritischer, wenn man sich die tatsächlichen Zahlen anschaut. Das Kulturleben hat sich pluralisiert, eine Konzertveranstaltung hat demzufolge eine sehr viel größere Konkurrenz als früher. Klassische Musik wird als Wert zwar geschätzt, als Ereignis aber kaum genutzt, vor allem nicht von jungen Menschen. Es herrscht also eine Beziehungsarmut zwischen Produzierenden und Rezipierenden. Junge Leute gehen nicht irgendwann ins Konzert, nur weil sie älter sind. Es sind die generationsspezifischen Prägungen in der Kindes- und Jugendzeit, die auch im Alter die Richtung des Musikgeschmacks vorgeben. Das hat mit Bildung und kultureller Sozialisation zu tun. Die im Kindes- und Jugendalter erfahrenen Kulturvorlieben haben erhebliche Bedeutung für die Herausbildung und Differenzierung des musikalischen Geschmacks. Deshalb muss man sich wieder die Frage der Relevanz stellen, und: Wie können wir die Musik, die wir alle lieben, relevant gestalten, damit wir auch in Zukunft Publikum haben? 

Musik ist immer eine zeitgenössische Angelegenheit: Sie passiert hier und jetzt.

HOLM: Welche Verantwortung siehst du in diesem Punkt bei den öffentlich geförderten Veranstaltern?

RIEKEN: Ich denke schon, dass die Veranstalter einen Bildungsauftrag haben. Es geht um öffentliche Zuwendung, das heißt: Es ist ein von den Steuerzahler:innen finanziertes Risikokapital. Ich glaube, Kunst ist deshalb frei und es gibt auch deshalb öffentliche Zuwendungen, damit man nicht 365 Tage im Jahr ausverkauft sein muss. Und da sind auch Veranstalter in der Pflicht, diesen Bildungsauftrag zu erfüllen und dieses Risiko einzugehen, besonders bei jungen Komponist:innen und Ensembles.

HOLM: Welche Transformationen siehst du also als notwendig, um das Konzert ins 21. Jahrhundert zu übertragen?

RIEKEN: Musik ist immer eine zeitgenössische Angelegenheit: Sie passiert hier und jetzt. Die oftmals zu beobachtende Selbstreferentialität des (klassischen) Musikbetriebs verhindert jedoch aktuelle Anknüpfungspunkte und Identifikation. Der Ausdifferenzierung der Lebensstile, der Verschiedenheit der Bildungshintergründe, der Erwartung und der kulturellen Geprägtheit der Besucher:innen und vor allem der Noch-Nicht-Besucher:innen müssen ebenso vielseitige und vielschichtige Aufführungskonzepte gegenüberstehen.

Konzerte sind ein unverzichtbarer Teil des menschlichen Zusammen- und Kulturlebens. Sie sind nicht nur musikalische, sondern stets auch soziale Ereignisse – denn erst durch die Anwesenheit eines Publikums wird die musikalische Darbietung zur lebendigen Zeitkunst. Das Verhältnis von Erkenntnis und Erleben beim Hörerlebnis, das Zusammenspiel von Werk und Raum, das Verhältnis von Musik und Alltag, die sinnstiftende Inszenierung von Musik und Anlass sind neben der Auswahl der Interpreten und des Programms gleichwertige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Konzerterlebnis.